Deutschland müsste Abschiebungen in sechsstelliger Höhe durchführen und das scheitert vor allem am Willen der Bundesregierung? Wer Widerstand leistet, darf bleiben und Drittstaatenabkommen sind die Patentlösung? Zusammen mit Migrationsexperte Lukas Fuchs haben wir solchen Mythen auf den Zahn gefühlt.
Kaum eine Woche vergeht ohne das Thema Abschiebungen: Ob
Zuletzt fachte der Anschlag in Solingen die Abschiebe-Debatte erneut an. "In der öffentlichen Debatte geht allerdings ziemlich viel durcheinander, die Aufmerksamkeit ist verzerrt und manche Aussagen sind auch faktisch falsch", sagt Migrationsexperte Lukas Fuchs. Er hat mit unserer Redaktion auf gängige Mythen geblickt.
Mythos 1: Hunderttausende Menschen könnten abgeschoben werden
"Wenn es um Abschiebungen geht, fällt immer wieder die Zahl von rund 226.000 ausreisepflichtigen Menschen", sagt Fuchs, der in der Abteilung Migration des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung arbeitet. Dabei sei nur den wenigsten bewusst, dass nur etwa 128.000 Menschen davon in Folge eines abgelehnten Asylantrags ausreisepflichtig sind." Die andere Hälfte sei aus anderen Gründen ausreisepflichtig – das habe mit der Fluchtmigration gar nichts zu tun. "Das reicht vom Leiharbeiter, der nach abgelaufenem Arbeitseinsatz nicht zurück nach Albanien geht, über ausländische Studierende, die nicht zurückkehren wollen, bis hin zu Touristen", erklärt Fuchs.
Außerdem muss die Zahl von rund 226.000 ausreisepflichtigen Menschen juristisch dringend genauer kontextualisiert werden: "Nur etwa 44.000 davon sind nämlich unmittelbar ausreisepflichtig. Das sind also die Menschen, die theoretisch von einer Abschiebung betroffen wären", erklärt Fuchs. Das wiederum sei der niedrigste Stand dieser Zahl seit mehr als zehn Jahren – "also auch ein niedrigerer Wert als zu der Zeit, in der die CDU regiert hat, die nun so besonders laut ist", kommentiert Fuchs.
Mythos 2: Abschiebungen scheitern am Willen der Bundesregierung
Rund 80 Prozent der "Ausreisepflichtigen" haben eine Duldung. Sie sind also eigentlich verpflichtet, das Land zu verlassen, können aber "aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen" nicht abgeschoben werden. "Unmittelbar ausreisepflichtig sind rund 44.000 Menschen", sagt Fuchs. Es gebe dabei etwa Personen, die zu krank seien oder zu gefährdet in ihrem Heimatland oder derzeit eine Ausbildung machen. "In anderen Situationen fehlen Reisedokumente", sagt Fuchs.
Viele Abschiebungen oder Rückführungen seien faktisch nicht möglich, weil die Herkunftsländer ihre Leute nicht zurücknehmen. Wenn die Herkunftsländer nicht kooperieren, können die Leute nicht zurückreisen. "Das ist ein politischer Prozess. Die Bundesregierung hat aber eigens dafür das neue Amt des Sonderbeauftragten für Migrationsabkommen geschaffen", erinnert er.
Wichtiger sei aber, dass die Bundesregierung vor zwei Jahren mit dem Chancenaufenthaltsgesetz die Zahl der Ausreisepflichtigen maßgeblich gedrückt habe. "Dabei haben Menschen, die schon seit längerem mit einer Duldung in Deutschland leben, eine Zeit lang die Chance, die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel zu erfüllen. Dafür müssen sie zum Beispiel hier auf dem Arbeitsmarkt aktiv werden und sich die Voraussetzung für einen regulären Aufenthaltstitel erarbeiten. Das sind wirksame Maßnahmen, die tatsächlich etwas bewegen", erklärt Fuchs.
Mythos 3: Deutschland nimmt anteilig die meisten Syrer und Afghanen auf
Das hat
Das ist faktisch falsch. Iran, Pakistan, Österreich und Griechenland haben in Relation zu ihrer Bevölkerungsgröße mehr Menschen aus Afghanistan aufgenommen, Deutschland landet auf Platz 5. Der Libanon, Jordanien, die Türkei, Zypern und Österreich haben prozentual auch mehr Syrer aufgenommen. Hier steht Deutschland auf Platz 6. Basierend auf Zahlen von 2023 machen die beiden Gruppen 0,35 beziehungsweise 0,92 Prozent der Bevölkerung aus.
Mythos 4: Drittstaatenabkommen sind die Patentlösung
"Migrationsabkommen haben alle ihren Preis, das darf man nicht vergessen", sagt Fuchs. Man habe bereits beim Türkei-Abkommen gesehen, wie abhängig sich die EU von der türkischen Regierung gemacht habe. "Wir machen uns abhängig von Leuten, von denen wir eigentlich nicht abhängig sein wollen."
Wenn man ein Abkommen mit Afghanistan fordere, bedeute das Verhandlungen mit den Taliban. "Deutschland muss dann also mit Islamisten oder Regierungen kooperieren, mit denen wir aus gutem Grund im Moment keine Kontakte wollen", sagt Fuchs. Im Gegenzug wollten die Länder außerdem etwas angeboten bekommen, bei der Türkei sind das zum Beispiel Visa-Erleichterungen.
Man dürfe durch Abkommen die Missstände in den jeweiligen Ländern nicht aus dem Blick verlieren. "In der Türkei gibt es einige Missstände, vor denen Leute durchaus zu Recht fliehen", erinnert Fuchs. So würden Oppositionelle und die kurdische Minderheit verfolgt.
Mythos 5: Abschieben "im großen Stil" ist das wichtigste Ziel
Aus Sicht von Fuchs war diese Aussage von Kanzler Olaf Scholz (SPD) "politisch sehr unglücklich kommuniziert". Die Formulierung sei flapsig und es sei jedem völlig frei überlassen, was er hineininterpretiere. "Selbst, wenn Deutschland jetzt alle Ausländer abgeschoben hätte, die irgendwie ausreisepflichtig sind, würde die AfD vermutlich immer noch sagen, das ist nicht genug", ist sich Fuchs sicher.
Das Ziel, auf Biegen und Brechen mehr Leute abschieben zu wollen, sei nicht sinnvoll. "Viel sinnvoller ist es, schnell zu klären, wer in Deutschland bleiben kann, wer Anspruch auf einen Aufenthaltstitel hat", sagt er.
Mythos 6: Wer sich widersetzt, darf bleiben
"Abschiebe-Irrsinn! Wer sich weigert oder wehrt, darf bei uns bleiben", titelte die "Bild"-Zeitung Ende August und beschriebt einen Fall vom Düsseldorfer Flughafen. Dort hatte ein 38-Jähriger von der Elfenbeinküste zwei Polizisten durch Faustschläge und Bisse verletzt. Zitiert wird ein Brief der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen, in dem es heißt: "Wenn sich der Betroffene weigert, in das Flugzeug zu steigen bzw. auf eine andere Art versucht, sich der Abschiebung zu widersetzen (aktiver /passiver Widerstand), kann dieser auf freien Fuß gesetzt werden und eigenständig zu der ihm zugewiesenen Unterkunft zurückreisen."
Fuchs meint: "Das sind Einzelfälle und es geht um das Ermessen der Beamten – jemand kann auf freien Fuß gesetzt werden. Tatsächlich gab es laut Regierungsangaben im ersten Halbjahr nur 31 Fälle von aktivem Widerstand gegen eine Abschiebung", sagt Fuchs. Außerdem gebe es für solche Vorfälle rechtsstaatliche Verfahren, also etwa Anzeigen und gegebenenfalls Strafvollzug.
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Mythos 7: In ihrem Heimatland landen abgeschobene Straftäter im Gefängnis
Das ist mitnichten der Fall. Erst kürzlich machten 28 afghanische Straftäter Schlagzeilen, die zurück in ihr Heimatland kehrten. "Das waren vor allem Sexualstraftäter und Intensivtäter. In Afghanistan wurden sie kurz inhaftiert, mussten dann wahrscheinlich das Handgeld, was sie in Deutschland bekommen haben, an die Taliban abgeben und wurden dann relativ schnell auf freien Fuß gelassen", sagt Fuchs.
Er meint: "Da fragt man sich doch: 'Wo ist da die Gerechtigkeit?'" Menschen, die hier schwere Verbrechen begangen hätten, seien dort wieder auf freiem Fuß und würden eventuell erneut Straftaten begehen. "Dadurch ist unser Rechtsstaat ausgehebelt worden. Denn es gibt dort entweder keine Bestrafung für Verbrechen oder aber Bestrafungen, die mit unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten unvereinbar sind", sagt Fuchs.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Lukas M. Fuchs ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Migration am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.
Verwendete Quellen
- bild.de: Abschiebe-Irsinn!
- mediendienst-integration.de: Abschiebungen und "freiwillige Ausreisen"
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