Der Landtagswahlkampf in Bayern geht in die heiße Phase. Am 8. Oktober treten die Menschen im Freistaat an die Wahlurnen. Mit welchen Themen die Grünen trotz mauer Umfrageergebnisse punkten wollen, verraten das Spitzenkandidaten-Duo Katharina Schulze und Ludwig Hartmann im Gespräch mit unserer Redaktion.
Graue, dichte Wolken hängen über der bayerischen Landeshauptstadt an diesem Dienstag (29. August). Regen prasselt gegen die Scheiben der Staatskanzlei in München, während sich im Inneren der Freie-Wähler-Chef
Einige Kilometer nordwestlich der Staatskanzlei stellen sich zur selben Zeit die Grünen-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2023,
Nach dem Sonderkoalitionsausschuss, einer mündlichen Befragung, einer schriftlichen Befragung und einem persönlichen Gespräch zur Flugblattaffäre hält
Katharina Schulze: Ein bitterer Tag für unser Bayern: Markus Söder hat es versäumt, Haltung zu zeigen, Klarheit zu schaffen und Schaden von Bayern abzuwenden. Denn es geht hier um etwas Grundsätzliches, nämlich die Frage, ob der demokratische Grundkonsens unserer Erinnerungskultur verankert bleibt. Das Ansehen Bayerns hat massiven Schaden genommen. Die Menschen in Bayern haben ein Recht auf eine Staatsregierung mit Anstand.
Ludwig Hartmann: Taktik geht bei Markus Söder vor Haltung. Er hat einen schlechten Deal für unser schönes Bayern gemacht. Die schwerwiegenden Vorwürfe sind nicht ausgeräumt. Markus Söder toleriert weiterhin einen stellvertretenden Ministerpräsidenten, an dessen demokratischer Gesinnung Zweifel bestehen. Diese Koalition steht für alles außer Bürgerlichkeit und Anstand.
Die Fragen und Antworten an Herrn Aiwanger sind nun öffentlich einsehbar. Wie schätzen Sie die Auswahl der Fragen und vor allem die Antworten ein?
Schulze: Regierung befragt Regierung – das ist für uns nicht das richtige Vorgehen für so einen Fall. Hubert Aiwangers schriftliche Antworten auf zentrale Fragen in der Affäre sind völlig inhaltslos, sie schaffen keinerlei Transparenz. Auf der einen Seite erinnert er sich an nichts, auf der anderen Seite war es ein einschneidendes Erlebnis – das ist wenig glaubwürdig.
Am Donnerstag, 31. August, hatte sich Hubert Aiwanger öffentlich entschuldigt. Er ging aber dann gleich in den Angriffsmodus über und sprach von "Schmutzkampagnen" und "Hexenjagd". Was ist Ihr Eindruck zum Umgang Aiwangers mit der Angelegenheit?
Hartmann: Taktik statt Haltung – sowohl beim Ministerpräsidenten als auch bei seinem Stellvertreter. Der Ministerpräsident hat permanent auf Zeit gespielt, sein Stellvertreter beruft sich auf Erinnerungslücken und schlägt ansonsten verbal wild um sich. Ich finde diesen Umgang mit den Vorwürfen gegen einen Vize-Ministerpräsidenten unwürdig. Die Menschen in Bayern haben eine Regierung mit Anstand verdient.
Aiwanger scheint die Affäre schon abgehakt zu haben. Er ist wieder im Wahlkampfmodus und wird bei öffentlichen Auftritten bejubelt. Können Sie das nachvollziehen?
Schulze: Hubert Aiwanger hat in den letzten Wochen und Monaten Unsägliches von sich gegeben, ich denke dabei an seine Aussagen auf der Demonstration in Erding, wo er davon schwadronierte, dass sich die "schweigende Mehrheit die Demokratie zurückholen" müsse. Solche Aussagen kennen wir sonst nur von Trump. Dass er genauso weitermacht, zeigt seinen Umgang mit der Affäre: Noch eine Schippe drauflegen statt Demut. Das Ansehen Bayerns ist massiv beschädigt – und wird es weiterhin. Wir Grüne haben einen klaren demokratischen Kompass und stehen für erinnerungspolitische Verantwortung.
Markus Söder hat die Flugblatt-Affäre mit der Beantwortung der schriftlichen Fragen für abgeschlossen erklärt. Er wolle festhalten an der "bürgerlichen Regierung". Schwarz-Grün schloss er erneut aus. Denken Sie, die Wähler werden die Angelegenheit auch einfach so abhaken?
Hartmann: Spätestens als er Schwarz-Grün in der Beurteilung der Causa Aiwanger erwähnte, hat Söders Statement für mich jede Glaubwürdigkeit verloren. Ich habe in den letzten Tagen viele Menschen erlebt, die sich schockiert gezeigt haben vom Umgang des Ministerpräsidenten und seines Vize mit den schwerwiegenden Vorwürfen. Wir Grüne machen den Wählerinnen und Wählern ein starkes Angebot. Sie haben es in der Hand zu entscheiden, wie die nächste Regierungskoalition aussehen soll. Wir stehen bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, weil Bayern sich weitere fünf Jahre Stillstand und Spezlwirtschaft nicht leisten kann.
In Berlin sehen wir "den Kanzler in der Verantwortung"
Wie sehr lasten die Bundesgrünen als Bürde auf Ihrem Wahlkampf?
Schulze: Ich bin sehr froh, dass wir Grüne in Berlin regieren. Denn nach 16 Jahren Stillstand merken alle im Land, wie viel liegen geblieben ist. Und ich finde es gut, dass die Ampel-Bundesregierung mithilfe der Grünen wichtige Baustellen endlich anpackt. Beispielsweise den schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, das 49-Euro-Ticket, Erhöhung des Mindestlohns. Ich würde mir wünschen, dass nicht ganz so viel gestritten wird. Da sehe ich vor allem den Kanzler in Verantwortung.
Hartmann: Ich würde mir wünschen, dass die Regierungspartner ihre Erfolge deutlich mehr in den Fokus rücken und nicht immer gleich die Probleme. Wer hätte etwa vor anderthalb Jahren darauf gewettet, dass wir im vergangenen Winter die Gas-Speicher vollkriegen? Überspitzt gesagt, hätte man sich die Vermarktungsstrategie von Markus Söder abschauen sollen. Also, dass sich Robert Habeck vor jeden Gas-Speicher stellt, mit einem Banner: 100 Prozent erreicht. Denn anders als Söder hat die Bundesregierung echte Erfolge aus eigenem politischem Handeln vorzuweisen.
Die Grünen im Bund bekommen viel Gegenwind für ihre Politik. Auch aus der Bevölkerung, etwa für das Heizungsgesetz. Das geht doch auch an den Grünen in Bayern nicht spurlos vorbei, oder?
Hartmann: Natürlich merken wir das. Der Wahlkampf ist herausfordernder. Aber das ist wie beim Fahrradfahren: Je stärker man in die Pedale tritt, sich anstrengt, desto stärker bläst einem der Wind ins Gesicht. Wir drücken uns nicht vor der Verantwortung. Wir sagen nicht: Bitte macht in Berlin langsamer, weil wir Wahlkampf haben. Im Gegenteil: Wir wissen, dass es nach 16 Jahren Stillstand jetzt eine Politik braucht, die entschlossen handelt und vor Herausforderungen nicht kuscht, sondern anpackt.
Schulze: Die Bürgerinnen und Bürger in Bayern wissen sehr wohl, dass die Wahl eine Abstimmung über die Zusammensetzung des bayerischen Landtags ist. Hier braucht es starke Grüne, um auch in Bayern endlich was voranzubringen. Warum stockt der Windkraftausbau? Warum fehlen Lehrkräfte? Warum fehlt es an konsequentem Klimaschutz? Dafür trägt Markus Söder die Verantwortung. Hier wollen wir Grüne anpacken.
Grüne-Doppelspitze, denn "dem Team gehört die Zukunft"
Sie treten als Doppelspitze an, obwohl Frau Schulze nicht Ministerpräsidentin werden kann. Warum?
Hartmann: Wir sind überzeugt, die One-Man- und One-Woman-Shows sind vorbei, dem Team gehört die Zukunft. Im letzten Wahlkampf haben wir bewiesen, welche Stärke so eine Doppelspitze entfalten kann. Wir haben damals das beste Ergebnis unserer Geschichte eingefahren.
Aber auf den Wahlplakaten oder auf den Wahlzetteln steht nicht, dass Frau Schulze nicht Ministerpräsidentin werden kann. Verschweigen Sie da den Wählerinnen und Wähler nicht etwas, um die große Bekanntheit von Frau Schulze zu nutzen?
Schulze: Politik ist keine Frage des Alters – und wir haben diese willkürliche Grenze nicht gezogen. Wir wollten die Altersgrenze für Ministerpräsidenten (die Grenze liegt bei 40 Jahren, Frau Schulze ist 38 Jahre alt, Anm. d. Red.) auch abschaffen. Aber der Antrag auf Streichung wurde abgelehnt. Interessant ist dabei, dass Markus Söder die Altersgrenze nach oben für Landrätinnen und Bürgermeister abgeschafft hat. Das zumindest ist gut, denn Altersdiskriminierung ist in jede Richtung falsch. Aber nach unten hat er die Grenze so belassen.
Hartmann: Da mache ich mir auch keine Sorgen. Wir müssen aber auch die Realität anerkennen: Unsere Machtoption ist, Teil einer Regierung zu sein. Wer will, dass wir dieses Land mitgestalten, muss Grün wählen.
"Wir rücken Falschinformationen gerade"
In der Öffentlichkeit entsteht oft der Eindruck, die Grünen seien mehr damit beschäftigt, die Attacken von der CSU abzuwehren, als die eigenen Punkte und Erfolge zu verkaufen. Zum Beispiel müssen Sie immer noch gegen die Falschmeldung ankämpfen, dass Sie in Kitas Fleisch verbieten wollen. Müssen die Grünen stärker auf Angriff setzen?
Schulze: Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht zu erfahren, dass der Ministerpräsident Falschinformationen verbreitet und wir rücken das gerade. Ich bin überzeugt, dass Populismus der Feind der Demokratie ist. Wir merken das auch bei ganz vielen Gesprächen, dass Menschen Angst haben vor amerikanischen Verhältnissen. Wir treten für einen anderen Politikstil ein. Wir streiten gerne, gerne auch hart in der Sache, aber immer faktenbasiert mit Anstand und Respekt.
Aber merken Sie nicht im Wahlkampf, dass der Dialog mit den Bürgern schwieriger wird, weil man diese Klischees erst einmal ausräumen muss?
Schulze: Ja, teilweise, aber sich deswegen wegzuducken, halte ich für falsch.
Hartmann: Alle demokratischen Parteien müssen besser werden, Fake News zu widerlegen. Wenn bei Markus Lanz das Beispiel mit den Kitas angesprochen wird, müssten unsere Kanäle innerhalb von zwei, drei Minuten auf allen Ebenen die Fakten raushauen und sagen: "Das ist der Beschluss. Da ist gar nichts verboten." Aber viel wichtiger ist, zusätzlich wieder mehr in der Kommunikation über das zu reden, was wir alles zu gewinnen haben, wenn wir Krisen meistern. Das ist vieles, und das sollte uns allen Lust drauf machen, unsere Zukunft in die Hand zu nehmen.
Die Bundesgrünen haben versucht zu kommunizieren. In jeder Talkshow wurde beispielsweise das Heizgesetz erklärt. Trotzdem blieb bei vielen Leuten hängen: Die Grünen wollen mir die Heizung aus dem Keller reißen. Was hält Sie davon ab, auf ein Wahlplakat zu drucken: "Wir lassen Ihre Heizung in Ruhe" oder "Es stimmt nicht, dass wir Kindern das Fleisch verbieten wollen."
Schulze: Wir stellen auf unseren Wahlplakaten Ideen und Lösungen nach vorne. Wir stehen vor vielen Umbrüchen. Etwa der schreckliche Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die Klimakrise, die wir täglich auch in Bayern erleben oder die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Unsere Antwort darauf ist, Mut zu geben, statt Angst zu machen.
Hartmann: Ich würde sagen: Mit Draufhauen begeistert man nicht. Und ohne Begeisterung gewinnt man keine Mehrheiten. Bei der CSU sieht man es deutlich. Seit einem Jahr arbeitet sie sich an der Ampel ab. Aber in den Umfragen hängt sie quasi da fest, wo sie vor fünf Jahren eines der schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte eingefahren hat. Im letzten Herbst ist Markus Söder durchs Land gelaufen und hat von Gas-Triage gesprochen und gesagt, dass ein Blackout droht. Das alles ist nicht eingetreten. Unsere Aufgabe ist es, zu zeigen, dass wir als Grüne die Probleme im Interesse der Menschen lösen.
In Bayern führt kein Weg daran vorbei, dass Sie mit der CSU regieren müssten. Markus Söder hat ein schwarz-grünes Bündnis aber bereits kategorisch ausgeschlossen. Glauben Sie, dass er sich doch darauf einlässt?
Hartmann: Wenn auf eins bei Markus Söder Verlass ist, dann darauf, dass er Versprechen ohne mit der Wimper zu zucken bricht. Er stellt sich am Tag danach vor die Medien, um überzeugend zu sagen, warum die Welt heute eine andere ist. Letztendlich entscheiden die Wählerinnen und Wähler, welche Regierung sie sich wünschen. Auch Markus Söder wird keine Regierung am Willen der Wählerinnen vorbei bilden.
Nehmen wir mal an, Markus Söder entschließt sich tatsächlich, Schwarz-Grün eine Chance zu geben. Wie wollen Sie vermeiden, die Fehler der Bundesgrünen zu wiederholen? Beispiel: zu viel Tempo beim Klimaschutz, wie etwa beim Heizgesetz. Wie holen Sie Menschen ab, die sich überfordert fühlen?
Schulze: Indem wir Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit immer miteinander denken. Ein Beispiel ist das kostenlose Bio-Mittagessen in allen Schulen, das wir fordern. Da schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Kinder bekommen gutes Essen zum Nulltarif, denn mit knurrendem Magen lernt es sich schlecht, und die Landwirte haben mit den Schulen feste Abnehmer, um dann in die ökologische Landwirtschaft investieren zu können.
"Das Auto wird in Bayern weiter eine Rolle spielen"
Ein Beispiel für Politik, die bei den Bürgern falsch ankommt, ist die Verkehrswende. Sie schreiben in Ihrem Wahlprogramm: "Das Auto wird auf dem Land weiterhin ein Mobiliätsbaustein bleiben". Widerspricht das nicht dem Grünen-Gen? Viele Menschen denken, dass Sie ihnen das Auto wegnehmen wollen.
Schulze: Dem ist aber nicht so. Uns ist klar: Wir werden nicht alle Orte in Bayern mit der Bahn verbinden können, aber mit uns wird es ein verlässliches Bus- und Bahnangebot auch auf dem Land geben. Aber mit sauberen E-Autos und Strom aus erneuerbaren Energien wird auf dem Land der Individualverkehr weiter eine Fortbewegungsart bleiben.
Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat erst unlängst gesagt, viele Grüne würden einen "Kulturkampf gegen das Auto" führen. Wie sieht es in Ihren Reihen aus?
Schulze: Da meint er nicht uns (lacht).
Hartmann: Ich würde sagen, wir denken Mobilität individuell. Kurze Abschnitte in der Stadt kann ich zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren. Wenn ich aber in Bayern irgendwohin will, wo so gut wie kein Bus fährt, wird das Auto dort auch weiter eine Rolle spielen. Entscheidend ist, dass wir den Zwang zum Zweitauto im ländlichen Raum abschaffen und deshalb auch andere Angebote schaffen. Wir nennen das die grüne Mobilitätsgarantie.
Sie legen sich also auf E-Autos als zentralen Baustein der Mobilitätswende fest? Die FDP und die CSU hingegen pochen stets auf Technologieoffenheit und etwa die Möglichkeiten von Wasserstoff und E-Fuels.
Schulze: Das Rennen auf dem Automobilmarkt ist schon entschieden. Wenn wir nach China schauen, da explodiert der Markt für E-Autos. Wir wollen, dass das Auto der Zukunft in Bayern gebaut wird, also muss die Reise zum E-Auto gehen. Um da wettbewerbsfähig zu sein, brauchen wir die passende Infrastruktur. Jetzt neben einem Netz aus E-Ladesäulen noch ein Wasserstoffnetz aufzubauen, macht keinen Sinn. Ich bin überzeugt, dass wir Wasserstoff brauchen werden, aber für andere Bereiche. Etwa für die energieintensive Industrie oder den Schiffs- und Flugverkehr.
Hartmann: Die Vorstellung, jede Tankstelle jetzt noch für Wasserstoff und E-Fuels umzurüsten, ist doch Wahnsinn. Wissenschaft und Forschung sind frei. Die sollen alles weiterentwickeln. Aber irgendwann muss Politik Technologieklarheit durchsetzen und sagen: "Das ist jetzt der Weg. Darauf setzen wir." Wir erleben gerade, dass die größte Herausforderung ist, dass wir Produkte, die marktreif sind, auch wirklich am Markt etablieren. Wir müssen das E-Auto in die Masse kriegen.
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