Eines der wichtigsten Themen dieses Bundestagswahlkampfs ist die schwächelnde Wirtschaft. Auf die kommende Bundesregierung kommt einiges an Arbeit zu. Wo der Schuh besonders drückt, erklärt Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier im Interview.
US-Präsident
Unternehmer und Wirtschaftsexperten haben die größten Schmerzpunkte bereits identifiziert: Zu viel Bürokratie, mangelnde Digitalisierung, zu hohe Kosten und fehlende Fachkräfte schwächen den Wirtschaftsstandort Deutschland. Genug Hausaufgaben für die kommende Bundesregierung. Warum die Politik mutiger werden muss und was wir von Frankreichs Präsident
Die überbordende Bürokratie scheint für viele Unternehmen in Deutschland der größte Wachstumskiller zu sein. Würden Sie da mitgehen?
Frau Dr. Ulrike Malmendier: Das ist gar nicht so einfach zu beurteilen, wie es vielleicht zunächst klingt, denn uns fehlen vernünftige Daten über die Bürokratiebelastung der Wirtschaft. Es gibt zwar den Bürokratiekostenindex, aber darin werden landesrechtliche und kommunale Vorschriften nicht erfasst. Und vor allem wird da die EU ausgenommen. Es wird immer über die deutsche Regulierungswut geschimpft, aber viele Regeln und Vorschriften kommen von der EU.
Tatsächlich ist Bürokratielast besonders für kleine und mittlere Unternehmen ein echter Kostenfaktor. Zum Glück haben eigentlich alle politischen Parteien hier den Handlungsbedarf erkannt.
"Wir sollten mal mutig sein."
Was wäre Ihr Tipp, um dem Monster Bürokratie entgegenzutreten?
Wir Deutschen neigen oft zum Perfektionismus. Wir wollen manchmal alles von vorne bis hinten regulieren, damit auch ja alles genau so läuft wie geplant. Aber das ist der falsche Ansatz, weil man in den Auflagen und Dokumentationspflichten ertrinken kann. Wir sollten mal mutig sein und versuchen, diese Belastung drastisch zurückfahren, und dann schauen, was passiert. Später kann man immer noch Anpassungen vornehmen.
Ist die deutsche Politik zu mutlos?
Das denke ich manchmal. Man sollte häufiger bereit sein, etwas radikaler vorzugehen. Auch in der Deregulierung und Entlastung bei Dokumentationspflichten. Wenn dann nicht alles direkt perfekt läuft, sollte man nicht dafür bestraft werden, sondern einfach Lehren daraus ziehen. Umgekehrt sollten Gesetzgeber und Behörden, die gute Ideen haben, Dinge einfacher zu machen, belohnt werden. Da muss sich die Einstellung ändern – in den Behörden und der Politik genauso wie in den Unternehmen.
Das Bürokratieproblem ist nicht neu. Bislang hat sich jedoch zu wenig getan. Was raten Sie der nächsten Regierung?
Die Schmerzgrenze der Unternehmen ist mittlerweile dermaßen deutlich überschritten, dass ich davon ausgehe, dass die Politik handeln wird. Es freut mich, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission,
Bauchschmerzen bereitet der Wirtschaft auch die schleppende Digitalisierung. Warum kommt Deutschland hier nicht in Schwung?
Eine gute Antwort auf die Frage habe ich leider nicht. Es liegt jedenfalls nicht daran, dass wir nicht das Know-how hätten. Wir haben gute Elektroingenieure und IT-Spezialisten. Es gibt allerdings einige Aspekte, die uns in Deutschland ausbremsen.
Die wären?
Bei uns spielt der Datenschutz eine viel größere Rolle. In anderen Ländern kann man sehr viele Dinge unkompliziert mit dem Personalausweis oder der Sozialversicherungsnummer online erledigen. Auch das föderale System ist häufig ein Problem. Jede Landesbehörde, jede Landesregierung hat ihr eigenes IT-System und eigene Software.
"Besonders bei der Digitalisierung ist es wichtig, Innovation reinzubringen."
Bei der elektronischen Patientenakte waren die Datenschutzbedenken so groß, dass gefordert wurde, sie erst gar nicht einzuführen. Der Glasfaserausbau stockt, weil viele Kommunen und Menschen sagen, sie wollen das gar nicht. Sind wir Deutschen zu rückwärtsgewandt?
In vielen Bereichen sind wir eigentlich sehr gut. Im Produktionsbereich – Beispiel: Robotik – hat es bei uns sehr gut funktioniert. Bei der Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen oder elektronischen Personalakten sind wir hingegen sehr langsam gewesen. Ich weiß wirklich nicht genau, woran es hapert.
Braucht Deutschland ein eigenständiges Digitalministerium?
Was ich mir wünschen würde, wäre, dass die Ministerin oder der Minister einen (informations-) technischen Hintergrund hat und unternehmerisch eingestellt ist. Besonders bei der Digitalisierung ist es wichtig, Innovation reinzubringen. Er oder sie braucht auch die Verfügungsgewalt, um hier richtig etwas voranzutreiben.
Vielleicht könnten wir auch einige Entwicklungsstufen der Digitalisierung, die wir bereits verpasst haben, überspringen und beispielsweise mit Künstlicher Intelligenz (KI) die unterschiedliche Software der Länder miteinander kompatibel machen. Hier liegt großes Potenzial, die Produktivität anzukurbeln. Da können wir uns ein Vorbild an Emmanuel Macron und seinem KI-Gipfel in Paris nehmen. Ob es dafür jetzt ein eigenes Ministerium braucht, sei mal dahingestellt.
Die SPD und die Grünen sehen in ihren Wahlprogrammen Subventionen vor für Unternehmen, die in Deutschland investieren. Die Union und auch die FDP wollen generell die Steuerlast reduzieren. Welches Konzept halten Sie für sinnvoller?
Ob Subventionen oder Steuerentlastungen – für mich klingt die Vorstellung, dass wir so unsere Wirtschaft in Schwung bringen, ein bisschen rückwärtsgewandt. Wir wollen zurück zu unserem alten Glanz mit den wirtschaftspolitischen Instrumenten der 1980er Jahre.
Das müssen Sie genauer erklären.
Man glaubt, man kann mit Steuersenkungen oder Subventionen genügend Anreize für Investitionen bieten, um aus der Stagnation herauszukommen. Aber man sollte sich lieber fragen, wo das zukünftige Wirtschaftswachstum herkommen soll. Wir werden vermutlich deutlich weniger auf die traditionellen Säulen der deutschen Wirtschaft bauen können, wie etwa die Chemieindustrie, den Maschinenbau oder den Bau von Verbrennerfahrzeugen. In diese klassischen Industrien zu investieren, lief für uns lange gut – viel länger als für andere große Industrienationen. Aber jetzt müssen wir in wachstumsorientierte Technologien und Unternehmen investieren.
Und das tun wir Ihrer Meinung nach zu wenig?
Was die Förderung von Start-ups und die Anzahl von Gründungen angeht, steht Deutschland schon ganz gut da. Dafür läuft es aber in der Wachstumsphase besonders schlecht. Wenn sich von zehn Start-ups vielleicht eines oder zwei besonders gut entwickelt und mehr Finanzierung benötigt, dann wird es schwierig. Unser Wirtschafts- und Finanzierungssystem ist auf die Bereitstellung solcher Volumina von Risikokapital nicht ausgelegt. Dafür bräuchten wir starke Kapitalmärkte und einen größeren Fokus auf neue Technologien.
"Jede einzelne Arbeitskraft ist ganz besonders wertvoll."
Vor dem Hintergrund des massiven Stellenabbaus in der klassischen Industrie – allein 25.000 Mitarbeiter bei VW –, ist es da nicht vermessen zu sagen, man soll jetzt nur auf neue Technologien und Start-ups setzen?
Ich verstehe, warum man da so vorsichtig ist. Man will den Leuten nach all den Krisen und Umwälzungen der letzten Jahre Beruhigung vermitteln, indem man die altbekannten klassischen Industrien und Firmen zu stärkt. Auch wird dann oft auf die Wertschöpfungsketten verwiesen, die an diesen Industrien dranhängen; aber das ist Augenwischerei.
Wenn wir jetzt beispielsweise ein großes Rechenzentrum im Ruhrgebiet bauen – also KI statt Kohle –, dann entsteht da auch ein Rattenschwanz an neuen Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen. Eines ist mir aber sehr wichtig: Mit dieser Verschiebung der wirtschaftspolitischen Schwerpunkte dürfen wir es uns nicht gegenüber der Belegschaft von VW oder den Zulieferern einfach machen, nach dem Motto: Pech gehabt.
Sondern?
In den 80ern hätte man sich jetzt große Sorgen um eine Massenarbeitslosigkeit gemacht. Heute haben wir aber eine Arbeitskräfteknappheit. Das heißt, jede einzelne Arbeitskraft ist ganz besonders wertvoll. Daher müssen wir Leuten, die ihren bisherigen Arbeitsplatz verlieren, ganz besonders helfen, dass sie möglichst glatt, ohne emotionales und psychologisches Trauma und ohne viel Aufwand für einen zukunftsorientierten Beruf umgeschult werden. Das muss niederschwellig und inkludierend passieren, sonst kann es ganz schnell zu politischer Radikalisierung führen, wie es teilweise in den USA geschehen ist. Also sollte man lieber statt Subventionen für den Erhalt der alten Arbeitsplätze das Geld nehmen und den Menschen helfen, in einen neuen Job zu kommen.
Sie sprachen von Rechenzentren – sehr große Stromfresser, dazu kommen die energieintensiven Industrien, wie Stahl, Chemie und Pharma. Aber bereits jetzt ächzt die Wirtschaft unter hohen Energiepreisen und der Umstieg auf Erneuerbare Energien ist noch lange nicht abgeschlossen. Muss man da jetzt einfach durch, damit es am Ende besser wird?
Es ist gut, ein klares Endziel vor Augen zu haben. Erneuerbare Energien werden irgendwann günstiger sein und sind besser für die Umwelt. Aber für die Übergangszeit braucht es ein vernünftiges Konzept, um die Unternehmen zu entlasten. Dabei muss man sich aber genau anschauen, welche Branche oder Firma für eine Überbrückung in Frage kommt, damit man nicht mit der Gießkanne einfach das Geld verteilt.
Zweitens brauchen wir auch hier eine europäische Lösung – ein europäisches Energiekonzept. Wir sollten die Vorteile des Staatenbunds besser nutzen. Wenn beispielsweise auf der iberischen Halbinsel häufig die Sonne scheint, muss der Strom unkompliziert von dort in den Rest Europas gelangen. Oder es muss ein gesamteuropäisches Wasserstoffnetzwerk aufgebaut werden.
Drittens könnte man Unternehmen bessere Anreize geben, sich gezielt in der Nähe beispielsweise von Solar- oder Windparks niederzulassen oder vielleicht selbst welche zu errichten.
Viele Arbeitsmarktexperten sagen, dass wir noch viel ungenutztes Arbeitskräfte-Potenzial im Land haben: Mehr Frauen in Vollzeit bringen, längere Lebensarbeitszeit und Anreize für Weiterarbeit in der Rente. Kann das unser Fachkräfteproblem lösen?
Es braucht definitiv Konzepte, Frauen aus der Teilzeitbeschäftigung zu holen, anstatt zum Beispiel das Thema Mütterrente zu preisen. Zudem hat sich auch die Lebenszeit erhöht. Hier Anreize zu schaffen, länger zu arbeiten, ist sicherlich sinnvoll. Auch bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben von Arbeitslosen gibt es noch Potenzial. Aber das wird alles nicht reichen, damit wir die Arbeitszeitstunden wieder auf ein Niveau bekommen, bei dem die deutsche Wirtschaft wachsen kann. Wir brauchen mehr Arbeitskräfte, auch aus dem Ausland, und müssen die Arbeitskosten senken.
"Wenn jemand mit einer etwas dunkleren Hautfarbe sich nicht mehr traut, in bestimmte deutsche Städte zu ziehen, haben wir ein Problem."
Wie hängt das mit den Fachkräften zusammen?
Weil wir nicht genug Arbeitskräfte haben, halten Unternehmen in schwachen Auftragsphasen ihre Mitarbeiter, denn sie haben Angst, später keine neuen zu finden. Das heißt, sie stellen ein Produkt mit zwei Mitarbeitern her, für das sie sonst einen gebraucht hätten. Das senkt die Arbeitsproduktivität, lässt die Lohnstückkosten explodieren und ist Gift für das Wachstum. Diesen Arbeitskräftemangel werden wir nicht mit inländischen Arbeitskräften allein lösen können.
Was muss die Politik also tun?
Man kann natürlich auf ein kleines KI-Wunder hoffen. Die Künstliche Intelligenz könnte die Bürokratie- und Verwaltungsarbeit drastisch vereinfachen. Aber selbst das wird wohl nicht reichen.
In der Wachstumsinitiative der Ampel-Regierung stand unter anderem eine Vereinfachung der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften. Da wären wir wieder bei der Bürokratie. Es muss einfacher sein, dass Arbeitswillige beispielsweise aus dem Westbalkan, aber auch aus anderen Ländern, zu uns kommen und hier arbeiten können.
Ein weiterer Vorschlag der alten Bundesregierung, der jedoch in der öffentlichen Diskussion nicht besonders gut ankam, den ich aber mitgehen würde, wäre die steuerliche Entlastung für hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte. Denn wenn Fachkräfte in wachstumsorientierten Bereichen eingesetzt werden, könnten sie auch wieder andere Arbeitsstellen schaffen. Andere europäische Länder haben damit bereits gute Erfahrungen gemacht.
Die aufgeheizte Migrationsdebatte und die damit einhergehende, ablehnende Haltung gegenüber Ausländern sind Gift für das Thema ausländische Fachkräfte, oder?
In der Tat ein schwieriges Thema für die Parteien, denn unter dem Begriff Migration vermischt sich gerade alles – von Flüchtlingen, über illegale Migration, bis zu ausländischen Fachkräften. Aber als jemand, der keinen Wahlkampf betreiben muss, kann ich sagen, dass das Thema aus ökonomischer Sicht wirklich wichtig ist. Die alte Bundesregierung hat sich zum Beispiel kurz vor dem Ampel-Aus um mehr Zuwanderung von indischen Fachkräften bemüht. Aber wenn jemand mit einer etwas dunkleren Hautfarbe sich nicht mehr traut, in bestimmte deutsche Städte zu ziehen, haben wir ein Problem.
Ich möchte aber auch deutlich sagen, dass wir Leute nicht einfach aburteilen dürfen, wenn sie verunsichert sind, weil sich ihre Stadt oder Dorf kulturell verändert. Auf keinen Fall kann man einfach sagen: 'Stell dich nicht so an. Ökonomisch gesehen brauchen wir das jetzt.' Es ist wichtig, sich stattdessen große Mühe zu geben, die Leute mitzunehmen, die Vorteile durch ausländische Arbeitskräfte besser zu erklären und die Unsicherheiten rauszunehmen, damit der Zusammenhalt der Gesellschaft aufrechterhalten bleibt.
Zur Gesprächspartnerin
- Dr. Ulrike Malmendier ist Cora Jane Flood Professor of Finance an der University of California in Berkeley und Professor of Economics am Department of Economics und Professor of Finance an der Haas School of Business.
- Sie ist seit September 2022 Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft für die Bundesregierung – auch Wirtschaftsweisen genannt.
- Malmendier studierte Volkswirtschaftslehre und Jura an der Universität Bonn, wo sie in Jura promovierte (summa cum laude). Eine zweite Promotion erwarb sie in Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University.