Am Sonntag wird in der Türkei gewählt – ein Machtwechsel könnte bevorstehen. Ein enges Rennen zwischen dem amtierenden Präsidenten Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu zeichnet sich ab. Experte Rasim Marz spricht im Vorfeld der Wahl über die Relevanz für Deutschland, die Bedeutung von Wählerinnen für Erdogan und die Auswirkungen, die das Ergebnis auf die türkische Russlandpolitik haben dürfte.

Ein Interview

Herr Marz, am Sonntag wird in der Türkei gewählt. Einige sprechen von einer Schicksalswahl für die Frage, ob das Land weiter in einen totalitären Staat abdriftet oder die Demokratie eine Renaissance erlebt. Ist das dramatisiert oder steckt Wahrheit dahinter?

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Marz: Die Türkei steht am 14. Mai vor einer historischen Richtungswahl, die sowohl über die politische Zukunft von Präsident Recep Tayyip Erdogan als auch über die weitere Entwicklung des Landes entscheiden wird. Wenn Staatspräsident Erdogan wiedergewählt werden sollte, so wird er seinen harten Kurs der letzten Jahre weiterführen und auch die eigene Macht weiter konzentrieren wollen. Sollte hingegen die Opposition gewinnen, so wird eine Abkehr vom Präsidialsystem erwartet und eine Hinwendung zur europäischen Demokratie.

Wie entscheidend ist es für Deutschland und Europa, ob am kommenden Sonntag Erdogan oder Kilicdaroglu gewinnt?

Ein Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan wird die stark abgekühlten bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei nicht auftauen lassen können. Kemal Kilicdaroglu wird zwar die Türkei wieder auf westlichen Kurs bringen und eine neue Dialogbereitschaft in den Fragen der EU-Mitgliedschaft, einer Annäherung an Griechenland oder der Zypernfrage mit sich führen, doch die türkischen Forderungen werden in vielen außenpolitischen Feldern unverändert bleiben.

Deutschland kann jedoch im Falle eines Sieges der Opposition mit einem neuen starken Partner in Ankara rechnen. Sowohl Olaf Scholz als auch Kemal Kilicdaroglu stammen aus der Sozialdemokratie und fühlen sich ihr stark verbunden.

Die Vorsitzenden der Grünen, Omid Nouripour und Ricarda Lang, am 28. September 2022 in Berlin

Türkei-Wahlen: Grüne rufen zur Abwahl von Präsident Erdoğan auf

Seit 2014 bestimmt Recep Tayyip Erdoğan als Präsident die Geschicke der Türkei. In einem Beschluss richtet sich die Parteispitze der Grünen an alle Menschen, die bei der Wahl am 14. Mai ihre Stimme abgeben dürfen. Sie hätten die Chance, Erdoğans Regentschaft zu beenden und das Land zurückzuführen auf den Weg der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Türkei-Wahl: Rolle der Wähler in Deutschland

Welche Rolle spielen die Wählerinnen und Wähler in Deutschland?

Unter den 1,5 Millionen wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Deutschland zeichnet sich mit 48,8 Prozent eine hohe Wahlbeteiligung ab. 2018 lag sie bei 45,7 Prozent. Präsident Erdogan konnte in den letzten zwei Jahrzehnten auf eine große Anhängerschaft in Deutschland zählen, doch wahlentscheidend – wie viele Medien es immer wieder vorbrachten – waren diese Stimmen für die Wahl nicht. Hier gab es weitaus größere Gruppen und bedeutendere Faktoren.

Angeblich gibt es eine große Anzahl Frauen, die ihre Stimme Erdogan geben. Wie ist das zu erklären?

Frauen zählten zu einer der wichtigsten Wählergruppen bei der Machtübernahme der heutigen Regierungspartei AKP im Jahre 2002. Frauen, die ihre islamische Lebensweise mit dem traditionellen Kopftuch verbanden, waren über Jahrzehnte repressiver kemalistischer Säkularisierungspolitik gegen die islamische Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Sie wurden Opfer akademischer wie politischer Ausgrenzung, Unterdrückung und staatlicher Willkür. Erst mit Recep Tayyip Erdogan erhielten die konservativen Frauen das Recht, an der Universität studieren zu dürfen oder als Abgeordnete im Parlament vereidigt zu werden.

Wie ist die aktuelle Rolle der Türkei aus europäischer Sicht? Hat sich die Türkei unter Erdogan Europa angenähert oder ist sie so weit entfernt wie noch nie?

Auch wenn die EU-Beitrittsverhandlungen de facto seit 2017 ausgesetzt sind, so benötigt die Europäischen Union die Türkei weiterhin als einen militärischen Partner in der gemeinsamen Nato-Allianz und als Vermittler in schweren Konflikten und Kriegen, wie die Beispiele Syrien, Libyen und aktuell die Ukraine zeigen. Ankara hat sich von der Europäischen Union mit großen Schritten entfernt und dies hat viele Ursachen.

Zum Beispiel?

2004 hatten Jacques Chirac und Gerhard Schröder der Türkei große Hoffnungen auf einen Beitritt gemacht, die schließlich kurz darauf durch die ablehnende Haltung ihrer Nachfolger Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in unerreichbare Ferne gerückt wurden. Hinzu kam, dass man die Außenpolitik der Türkei nicht mittragen wollte, die den Drang nach einer neuen türkischen Stellung in der Welt anstrebte. Desillusion machte sich in Ankara breit.

Erdogan als Vermittler zwischen Russland und dem Westen

Wie wichtig ist die Rolle der Türkei als Vermittler zwischen Russland und dem Westen? Erdogan hat sich immer als der große Vermittler aufgespielt. Stimmt das überhaupt?

Die türkische Außenpolitik unter Präsident Erdogan der letzten 20 Jahre stand ganz im Zeichen einer Schaukelpolitik zwischen Russland und dem Westen. Zugleich zeigte sie aber auf, welche Kräfte und Dynamiken in ihr wirken. Der Abschuss des russischen Kampfjets durch die Türkei Ende 2015 kühlte die Beziehungen zu Moskau zwar drastisch ab. Doch nach einer offiziellen Entschuldigung aus Ankara und im Zuge des gescheiterten Putschversuchs 2016 in der Türkei blühten die Beziehungen zwischen beiden Ländern unerwartet schnell wieder auf.

Seither verfolgen beide Präsidenten eine privilegierte Partnerschaft, die trotz aller Krisen einen pragmatischen Ansatz verfolgt. Die Opposition hat mehrfach signalisiert, einen Verkauf russischer Militärtechnologie bei ihrer Machtübernahme zu forcieren, um das Vertrauen der Nato-Allianz in den türkischen Bündnispartner wieder zu stärken.

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Was wäre in diesem Punkt zu erwarten, wenn Kilicdaroglu Präsident würde?

Die Türkei dürfte bereits in den ersten Monaten unter der Regierung eines Präsidenten Kilicdaroglu einen außenpolitischen Wandel vollziehen. Die Europäische Union würde nach einem Machtwechsel die Beitrittsverhandlungen wiederaufleben lassen und die Türkei weitere wichtige Kapitel erfüllen, um die EU-Mitgliedschaft zu erwerben.

Hierbei spielt auch der Flüchtlingsdeal eine große Rolle, der einst zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und Erdogan ausgehandelt wurde. Sowohl die CHP als auch ihre Koalitionspartner wollen den Flüchtlingsdeal auf den Prüfstand stellen und eine Rückführung der bis zu fünf Millionen syrischen Flüchtlinge in ihr Heimatland forcieren. Hierfür sollen auch die Beziehungen zum syrischen Machthaber Baschar al-Assad wieder normalisiert werden.

Über den Experten: Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.
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