- Eine Mitarbeiterin der Hamburger Wasserschutzpolizei, ein Polizist aus Hannover und eine Berliner Staatsanwältin sollen Sympathien für die Reichsbürger hegen.
- Immer wieder werden Fälle von Reichsbürgern im öffentlichen Dienst publik – doch wie groß ist das Problem tatsächlich?
- Unsere Redaktion hat dazu mit mehreren Experten gesprochen und bei den Innenministerien aller 16 Bundesländer angefragt.
Alles begann mit einem Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid. Es kommt häufiger vor, dass diese wegen Fehlern zurückgenommen werden. Doch es dürfte es in ganz Deutschland nur einen Fall geben, der in einer fristlosen Kündigung mündete – für die Antragstellerin.
Weil die Mitarbeiterin der Hamburger Wasserschutzpolizei in ihrem Widerspruch an die Lüneburger Bußgeldstelle "typische Reichsbürgerthesen" verwendete, wie es ein Polizeisprecher laut "Hamburger Abendblatt" ausdrückte, entließ die Polizei sie vergangenen Oktober.
Die damals 46 Jahre alte Angestellte im öffentlichen Dienst hatte in ihrem Schreiben unter anderem die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschland infrage gestellt. Das ist charakteristisch für "Reichsbürger" und "Selbstverwalter". Sie zweifeln die Legitimität der BRD an, erkennen Gesetze und Behörden nicht an und wehren sich sogar teilweise gewaltsam gegen staatliche Maßnahmen.
Doch wie passt das zusammen: Für einen Staat arbeiten, den man nicht anerkennt? Wie verbreitet ist das Phänomen Reichsbürger im Staatsdienst? Und sind die Sicherheitsbehörden sensibilisiert genug, um Anhänger dieser Szene in den eigenen Reihen zu bemerken?
Unsere Redaktion hat mit mehreren Experten gesprochen sowie bei den Innenministerien aller 16 Bundesländer nachfragt. Die Antworten zeigen, wie diffus das Bild der Sicherheitsbehörden ist und wie schwer es ist, Reichsbürger zu enttarnen.
Zwischen "Naturrecht" und Deutschem Reich
"Die Bewegung ist sehr vielfältig und heterogen, umfasst Menschen aus fast allen Schichten und Bildungsgraden, arm bis reich, vom Arbeitslosen bis zum Hochschulprofessor, alt wie jung, aus Ost- wie Westdeutschland," sagt Tobias Ginsburg. Der 34-Jährige recherchierte 2017 acht Monate lang in der Szene. Mehrere Wochen lang lebte er mit Reichsbürgern zusammen. Seine Erlebnisse hielt er in dem Buch "Die Reise ins Reich" fest. Einige der darin beschriebenen Gruppierungen berufen sich auf ein selbst definiertes "Naturrecht", andere auf das historische Deutsche Reich.
Während seiner Recherchen begegnete Ginsburg einigen Reichsbürgern, die im öffentlichen Dienst tätig waren, erzählt er. "Etwa einer Person, die in einer Justizvollzugsanstalt gearbeitet hat."
Er warnt davor, Reichsbürger als harmlose Spinner abzutun. "Geeint wird die Szene von ihrer Weltvorstellung, einer rechtsextremen Verschwörungsideologie. Und zu der gehört nicht nur die Leugnung des Staates sondern auch ein mehr oder weniger offen artikulierter Antisemitismus."
Bundesweit führte der Polizistenmord in Georgensgmünd im Oktober 2016 zu einem Umdenken. Ein Reichsbürger hatte in der mittelfränkischen Gemeinde das Feuer auf SEK-Kräfte eröffnet, weil die seine im Haus gelagerten Waffen beschlagnahmen wollten. Ein Polizist wurde bei dem Schusswechsel so schwer verletzt, dass er einen Tag später starb. Drei weitere Beamte wurden ebenfalls verletzt.
Konservative Schätzung: 19.000 Reichsbürger in Deutschland
Wenig überraschend hält Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) die Ideologie der Reichsbürger und Selbstverwalter für "unvereinbar mit der arbeits- und beamtenrechtlichen Pflicht öffentlich Bediensteter, für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten", wie sie auf Anfrage unser Redaktion erklärt. Ganz ähnlich formulieren es auch alle anderen Innenministerien.
Außer Brandenburg beantworteten alle Landesbehörden schriftlich unsere Fragen zu dem Komplex, der Sprecher der Hamburger Innenbehörde verwies auf eine aktuelle kleine Anfrage. Die Informationen, die die Ministerien zurückschickten, sind größtenteils auf dem Stand von Dezember 2020. Demnach sollen in ganz Deutschland annähernd 19.000 Menschen zu der Bewegung gehören. Experten halten diese offiziellen Zahlen allerdings für eine vorsichtige und konservative Schätzung.
In den vergangenen drei Jahren wurden bundesweit nur insgesamt zwei Dutzend (mutmaßliche) Reichsbürger im öffentlichen Dienst enttarnt, wie aus den Daten der Innenministerien hervorgeht. Entlassen wurden wesentlich weniger. Schon der Blick auf die Zahl aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst – 4,6 Millionen – zeigt: Das Problem ist vermutlich viel größer, als es die Sicherheitsbehörden auf dem Schirm haben.
"Das Ziel ist den Staat zu verändern, warum nicht von Innen?"
Denn es ist nicht so, dass die Reichsbürger den öffentlichen Dienst meiden würden.
Es sei kein Widerspruch für den Staat zu arbeiten, den man zugleich als nicht legitim ablehnt, sagt Reichsbürger-Experte Ginsburg. "Der Staat ist für sie ein feindliches Konstrukt und Teil einer riesigen Weltverschwörung. Wenn ich diesem Gegner schaden kann, wird das als etwas Gutes gesehen. Das Ziel ist den Staat zu verändern, warum nicht von Innen?"
Friedhelm Schäfer ist zweiter Vorsitzender des DBB, dem Dachverband von 40 Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes mit insgesamt 1,3 Millionen Mitgliedern. Er teilt Ginsbergs Einschätzung nicht. "Wie kann so ein Menschen im Staatsdienst sein? Den Staat abzulehnen und gleichzeitig für ihn arbeiten? Ich kann das nicht nachvollziehen."
Schäfer zufolge seien Reichsbürger im öffentlichen Dienst "kein großes Thema", das Problem begrenze sich "bisher weitgehend auf Einzelfälle". Aber auch Schäfer geht davon aus, dass es noch den ein oder anderen unentdeckten Fall gibt. "Die wirkliche Zahl wird höher sein, als die, die von den Verfassungsschutzbehörden genannt wird."
Öffentlich bekannt wurden zuletzt – neben dem eingangs geschilderten Fall – mindestens zwei weitere Fälle: Im November berichtete der "Tagesspiegel" über eine Berliner Staatsanwältin, die zusammen mit Reichsbürgern demonstrierte und auf Facebook Beiträge mit der schwarz-weiß-roten Reichsflagge teilte.
Wenn ein Polizist von einer "Okkupationsverwaltung" der Alliierten schwadroniert
Und dann ist da noch der Fall von Michael Fritsch. Die Polizeidirektion Hannover hat Fritsch im August vom Dienst suspendiert und gegen ihn ein Disziplinarverfahren wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zur Reichsbürgerbewegung eingeleitet. Der Kriminalhauptkommissar, laut eigener Aussage seit fast 40 Jahren im Dienst, hatte einen Staatsangehörigkeitsausweis beantragt und seinen Personalausweis abgegeben, wie er selbst in mehreren Interviews schilderte. Beides bekannte Verhaltensweisen von Reichsbürgern.
Seit vergangenem Sommer tritt Fritsch außerdem immer wieder auf Demonstrationen der sogenannten Querdenker auf und äußert sich dort szenetypisch: Das Grundgesetz sei von den Alliierten "installiert" worden, sagte er am 31. Oktober in Dresden. Und: "Wir haben aus meiner Sicht keine Verfassung." In seiner Rede am 21. November in Hannover suggerierte er, dass nach wie vor eine "Okkupationsverwaltung" der Alliierten bestehe, und er warf Polizisten vor, "gekaufte Söldner" zu sein.
Fritsch selbst dementiert vehement Reichsbürger zu sein. Er sehe sich vielmehr als Verteidiger der Demokratie, wie er dem NDR schriftlich mitteilte. Immer wieder betont der 57-Jährige für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen.
Viele Bundesländer erfassen Reichsbürger-Fälle im öffentlichen Dienst nicht systematisch
Angesichts immer wieder publik gewordener Fälle scheinen einige Bundesländer alarmiert. So stehe der Berliner Landesverfassungsschutz "in einem regelmäßigen Austausch" mit Behörden, Ämtern Gerichten und anderen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes, um diese "für die Ideologie und die Aktivitäten von Reichsbürgern und Selbstverwaltern zu sensibilisieren".
Und das Innenministerium in NRW habe die dortigen Polizeibehörden "darum gebeten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb der Polizeibehörden für diese Themen entsprechend zu sensibilisieren und etwaigen Verdachtsmomenten konsequent nachzugehen".
Das Problem: Die Sicherheitsbehörden in einigen Bundesländern – darunter Berlin, Bremen, Hamburg und Sachsen-Anhalt – haben laut eigener Aussage keinen vollständigen Überblick über Reichsbürger-Fälle in ihrem Zuständigkeitsbereich. Diese werden dort nicht zentral erfasst. Aus Baden-Württemberg heißt es, dass diese Fälle sogar generell "statistisch nicht erfasst" werden.
Das ist umso besorgniserregender, weil das südwestliche Bundesland eine der Hochburgen der Szene ist. Das dortige Innenministerium zählt aktuell etwa 3200 Reichsbürger und Selbstverwalter – nur in Bayern gehen die Behörden mit 4020 von noch mehr Anhängern aus.
Im Freistaat wurden auch die meisten Fälle innerhalb des öffentlichen Dienstes registriert: Zwischen 2018 und 2020 gab es laut Informationen des Innenministeriums insgesamt zehn Disziplinarverfahren gegen bayerische Beamte (davon drei Polizisten). Zwei der Beamten (davon ein Polizist) wurden entlassen.
Man kann den Menschen nicht in den Kopf schauen
Ein ähnliches Bild ergibt sich auch in Hessen für denselben Zeitraum: Bei zwei Polizisten habe sich nach disziplinarrechtlichen Ermittlungen "weder der Verdacht der Zugehörigkeit noch der Verdacht des Sympathisierens mit der Reichsbürgerbewegung bestätigt". Aktuell gebe es dem dortigen Innenministerium zufolge keine Hinweise darauf, dass Polizeibeamte in Hessen mit der Reichsbürgerbewegung sympathisieren oder dieser angehören.
Warum nur wenige Fälle in einer Kündigung enden, erklärt das niedersächsische Innenministerium: Die Ablehnung der Legitimität des Staates muss "konkret nachgewiesen werden", "sie muss sich durch ein entsprechendes Verhalten manifestiert haben". Jeder Fall müsse daher einzeln überprüft werden. In Niedersachsen laufen demnach aktuell Disziplinarverfahren gegen fünf Polizisten (davon zwei im Ruhestand) wegen der mutmaßlichen Zugehörigkeit zur Reichsbürgerbewegung.
Anders in Hamburg im Fall der 46 Jahre alten Angestellten der Wasserschutzpolizei: Die dortigen Sicherheitsbehörden reagierten nicht nur schnell, sondern hatten offensichtlich auch genug Beweise. Nachdem die Frau einem Gespräch mit dem Verfassungsschutz fernblieb, erfolgte kurze Zeit später ihre Entlassung.
Der entscheidende Hinweis auf die Frau kam jedoch nicht von Kollegen, sondern von der Bußgeldbehörde aus Lüneburg. Bis dahin sei die Angestellte dem Nachrichtendienst nicht aufgefallen, wie das "Hamburger Abendblatt" berichtete.
Wie auch? Menschen kann man nicht in den Kopf schauen. Viele Aktivitäten spielen sich im Verborgenen ab, kaum ein Reichsbürger oder Selbstverwalter gibt sich öffentlich als solcher zu erkennen. Zudem dürfte jeder Mitarbeiter im öffentlichen Dienst und insbesondere in der Polizei gut abschätzen können, was er wo sagen kann, ohne Probleme zu bekommen. Der Fall von Michael Fritsch ist die Ausnahme – aber dort haben die Sicherheitsbehörden auch nach sechs Monaten noch kein abschließendes Urteil gefällt.
Die Pandemie sorgt für Hochkonjunktur von Verschwörungserzählungen
Die Linken-Abgeordnete und Szene-Kennerin Martina Renner fordert deshalb die Einrichtung von unabhängigen Beobachtungsstellen mit Ermittlungskompetenzen. Wenn es nach ihr geht, sollen unabhängige Experten rechte Vorfälle und rassistische Praktiken untersuchen und dokumentieren.
Renner betont auf Anfrage unserer Redaktion: "Rechte Vernetzungen innerhalb der staatlichen Apparate sind besonders gefährlich weil die Akteure oft Zugriff auf sensible Daten und zum Teil auch auf Waffen haben." Gefährlich ist aus ihrer Sicht die politische Kultur des Wegschauens und Verharmlosens, "die von oben vorgelebt wird".
Ähnlich sieht das Reichsbürger-Experte Ginsburg. Die meisten Reichsbürger würden sich als Patrioten sehen, im Dienst gegen den Feind. Nicht Deutschland sei das Problem, sondern die BRD – "diese Leute sind hochgefährlich". Mit Beginn der Pandemie wuchs Ginsburg zufolge die Zustimmung für Behauptungen der Reichsbürger, sowohl im digitalen Raum, beim Messenger-Dienst Telegram und in Facebook-Gruppen, als auch in der Öffentlichkeit.
Die Coronakrise sorgt für Hochkonjunktur von Verschwörungserzählungen. In allen Bevölkerungsteilen. Ganz sicher auch im öffentlichen Dienst, der sich - zumindest laut eigener Aussage - als "Spiegelbild der Gesellschaft" sieht.
Verwendete Quellen:
- Schriftliche Anfragen an die Innenministerien aller Bundesländer
- Telefoninterviews mit Tobias Ginsburg und Friedhelm Schäfer
- Statement von Martina Renner (Die Linke)
- Schriftliche Anfrage an die Polizeidirektion Hannover
- Drucksache 22/2248 der Hamburgischen Bürgerschaft
- Verfassungsschutzbericht des Landes Brandenburg 2019
- Hamburger Abendblatt: "Polizei kündigt Angestellter: Sie gilt als Reichsbürgerin"
- Tagesspiegel: "Berliner Staatsanwältin demonstriert mit 'Reichsbürgern' und 'Querdenkern'"
- Interviews mit und Reden von Michael Fritsch auf Youtube
- NDR: "Fall Fritsch: Reichsbürgerverdacht bei der Polizei Hannover"
- DBB: "Öffentlicher Dienst: Für Extremisten ist bei uns kein Platz"
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