- Der Bundestag will die dramatische Endphase des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan aufarbeiten.
- Warum haben deutsche Ministerien und Behörden das schnelle Vorrücken der Taliban vor einem Jahr falsch eingeschätzt?
- Diese Frage und weitere soll ein Untersuchungsausschuss beantworten. Der SPD-Politiker Ralf Stegner wird ihn leiten.
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht Stegner über den Auftrag des Ausschusses, die aktuelle Situation im Land – und die Frage, ob Deutschland eine internationale Führungsmacht sein soll.
Vor einem Jahr haben die letzten deutschen Soldaten und Soldatinnen Afghanistan verlassen. Danach ist das Land in kurzer Zeit zurück an die radikalislamischen Taliban gefallen. Was ist Ihnen damals durch den Kopf gegangen?
War die deutsche Politik damals naiv – oder einfach schlecht informiert?
Das ist schwer zu sagen. Die Deutschen haben nicht allein gehandelt, sondern zusammen mit den Alliierten, vor allem den Amerikanern. Die Entscheidung über den Abzug hat ja ursprünglich der frühere US-Präsident
Was ist denn Ihrer Meinung nach dabei herausgekommen?
Das Ende dieses Einsatzes war auf jeden Fall gruselig. Frauen sind durch die Machtübernahme der Taliban jetzt in einer katastrophalen Lage. Es gibt eine Hungersnot und zudem noch die Folgen des Erdbebens. Das Land ist geschunden. Trotzdem gab es auch Fortschritte: Wir haben Brunnen gebaut, Mädchen Bildung ermöglicht, es haben Berufsausbildungen stattgefunden. Das Land ist nicht verloren, aber ein solches Ende stellt die Erfolge natürlich infrage.
Ralf Stegner: "Das sind wir den Soldaten und Ortskräften schuldig"
Der Bundestag hat jetzt einen Untersuchungsausschuss mit Ihnen als Vorsitzendem eingesetzt. Sie und elf Kolleginnen und Kollegen sollen herausfinden, was in der Endphase des Einsatzes in Ministerien und Behörden schiefgelaufen ist, warum die Sicherheitslage falsch eingeschätzt wurde. Müssten Sie sich nicht vielmehr mit der Sinnhaftigkeit des kompletten Einsatzes beschäftigen?
Es wird auch eine Enquete-Kommission unter dem Vorsitz von meinem Kollegen Michael Müller geben. Sie soll aus Afghanistan Lehren ziehen für die Bundeswehr-Auslandseinsätze, die wir noch haben. Beide Gremien sind wichtig. Wir als Untersuchungsausschuss haben die Möglichkeit, wie in einem Gerichtsprozess Zeugen zu hören und zu befragen. Es geht aber nicht um die Suche nach Schuldigen. Wir müssen Fehler finden und sie in Zukunft vermeiden, denn so etwas wie in Afghanistan darf nicht mehr passieren. Das sind wir auch den Soldaten und den Ortskräften schuldig. Sie waren einer Gefahr ausgesetzt, die offenbar nicht richtig eingeschätzt wurde.
Werden Sie dazu auch die damaligen Regierungsmitglieder vorladen? Also etwa den damaligen Außenminister Heiko Maas und die damalige Kanzlerin Angela Merkel?
Davon ist auszugehen. Natürlich werden die politisch Verantwortlichen aussagen. Ich will dem Ausschuss aber nicht vorgreifen. Ein Vorsitzender hat die Aufgabe, einen Ausschuss überparteilich zu leiten – und das habe ich auch vor. Wir werden solche Entscheidungen gemeinsam treffen. Es verbietet sich, das Thema für parteipolitische Scharmützel auszunutzen.
Sie gelten allerdings als angriffslustiger Parteipolitiker. Sind Sie wirklich der Richtige für diesen Posten?
Viele kennen nicht alle Facetten von mir. Ich habe hinreichend bewiesen, dass ich das kann. Ich habe auch in der Coronakrise als Oppositionsführer in Schleswig-Holstein sehr eng mit der Landesregierung zusammengearbeitet.
"Militärische Mittel müssen das allerletzte Mittel sein"
Muss die Politik in Zukunft vorsichtiger mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr umgehen?
Ich glaube, dass viele Abgeordnete sich schon in der Vergangenheit sehr genau überlegt haben, ob sie einen Einsatz unterstützen oder nicht. Wir haben gerade den Einsatz in Mali mehr oder weniger verlagert, weil die Soldaten dort nicht ausreichend geschützt waren. Man mag streiten über Waffenexporte, Militärausgaben, dieses und jenes. Wir sollten uns aber einig sein, dass unsere Soldaten und zivilen Helfer bei Auslandseinsätzen optimal geschützt werden müssen.
Deutschland hat seine Zusammenarbeit mit Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban weitgehend eingestellt. Ist das wirklich sinnvoll angesichts des Leids für die Bevölkerung?
Zurzeit ist viel Aufmerksamkeit auf die Ukraine gerichtet. Die katastrophale Situation in Afghanistan, wo wir ja 20 Jahre lang waren, kann uns aber nicht kaltlassen. Es stellt sich immer die Frage, ob man auch mit Regimen zusammenarbeitet, die einem nicht gefallen. Wenn es aber um das simple Überleben von Menschen geht, muss man so etwas zurückstellen. Ich habe darüber auch kurz mit der Außenministerin [Annalena Baerbock; Anm.d.Red.] gesprochen. Ich habe schon den Eindruck, dass die Bundesregierung den Willen zu effektiver Hilfe hat. Aus meiner Sicht hat das Priorität.
Ihr Parteivorsitzender Lars Klingbeil hat für Deutschland gerade die Rolle einer internationalen Führungsmacht gefordert. Was halten Sie davon?
Ich würde großen Wert darauf legen, dass das im Sinne von Zusammenführen gemeint ist. So hat es auch unser Fraktionschef Rolf Mützenich gesagt. Ein Führungsanspruch muss sich auf humanitäre Hilfe, auf diplomatische Initiativen, auf ökonomische und finanzielle Unterstützung beziehen. Ich möchte Deutschland nicht als militärische Führungsmacht sehen. Das schulden wir auch der Weltgemeinschaft mit Blick auf das vergangene Jahrhundert, in dem wir Kriege angezettelt haben und doch sehr großzügig wieder in die Weltgemeinschaft aufgenommen wurden. Militärische Mittel müssen das allerletzte Mittel der Politik sein. Hungersnöte und die Klimakrise werden wir nicht mit Wettrüsten lösen.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.