Das Treffen der potenziellen Kanzler bei "Anne Will" endet in einem heftigen Streit um Friedrich Merz' Sicht auf Frauenpolitik. Wirklich überzeugende Ideen für die Zeit nach Corona präsentiert keiner der Gäste.

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Helmut Schmidt hätte das gefallen. "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen", sagte der verstorbene SPD-Altkanzler einmal, und diesen Test hätten alle drei potenziellen Kanzler bestanden, die am Sonntagabend bei "Anne Will" beisammen saßen.

Keine Spur von Utopien oder auch nur gewagten Ideen, weder bei Olaf Scholz, noch bei Friedrich Merz oder Annalena Baerbock. Dumm nur, dass Zukunftsvisionen genau das Thema waren – aber das versammelte Spitzenpersonal wenig mehr zustande brachte als Floskeln, tagespolitisches Geplänkel und politische Breitbeinigkeit.

Was ist das Thema bei "Anne Will"?

Die ARD startet mit dieser Sendung in die Themenwoche "Wie wollen wir leben?" - eine Frage, die in der Corona-Pandemie immer wieder gestellt wird. Was sind die Lehren aus der Pandemie, die Rezepte für die Zeit danach – und welche Prioritäten sollten gesetzt werden?

Wer sind die Gäste?

Olaf Scholz (SPD) spult in gewohnter Sachbearbeiter-Manier ein paar seiner bekannten finanzpolitischen Grundsätze herunter: Steuervermeidung verhindern, Digitalsteuern erheben, Vermögende zur Kasse bitten. Ansonsten verteidigt er vehement die Corona-Bazooka: "Es ist notwendig, was wir machen. Wir können es uns leisten."

Für die notwendigen Investitionen nach Corona will Annalena Baerbock (Grüne) die Schuldenbremse abschaffen. "Wenn wir nicht nur den Status Quo sichern, sondern verhindern wollen, dass wir in eine tiefere Krise rutschen, müssen wir investieren in Digitalisierung, Bildung und Klimaschutz."

Nicht mit Friedrich Merz (CDU): "Wenn die Pandemie vorbei ist, müssen wir zu soliden Haushalten finden." Deutschland habe ohnehin die höchste Steuerlast und die höchsten Energiepreise Europas. "Und da wollen sie noch neue Schulden drauflegen?"

Was ist der Moment des Abends?

In Rekordzeit arbeitet die Runde das Polit-Floskel-Bingo ab. Zur Illustration die allererste Antwort von Friedrich Merz im Wortlaut: "Wir werden Veränderungen erleben, aber hoffentlich gibt es Einiges, was wir beibehalten können. Nicht alles wird sich ändern, aber vieles."

Und ein Auszug aus Annalena Baerbocks erster Wortmeldung: "Wichtig ist, dass wir aus dem Schwarz-Weiß-Denken herauskommen (…). Wir müssen das System auf neue Füße stellen. (…) Aber das geht nicht so einfach, das muss die Politik aktiv gestalten." Wer da noch nicht zur Fernbedienung greift, ist wahrscheinlich schon eingeschlafen.

Was ist das Rede-Duell des Abends?

Erst in der letzten Viertelstunde kommt Leben in die Runde – beim bewährten Aufregerthema Gendern, das Anne Will an jenem viel diskutierten Gesetzestext aufhängt, in den SPD-Justizministerin Christine Lambrecht konsequent nur weibliche Formen ("Anlegerinnen") geschrieben hat.

Eine gute Aktion, meint Parteifreund und "Feminist" Olaf Scholz: "Das hilft, vor allem wenn man mit einem Partner regiert, der nicht einmal versteht, was gemeint ist."

Merz, der bis dato nur mit verächtlichen Lachern auf das Thema reagiert hat, wird sauer: "Okay, jetzt steigt das Niveau." Scholz legt nach: "Es gehört zu den Methoden mächtiger Männer, immer nur zu lachen, wenn es um Frauenfragen geht."

Alles Nebensache, meint Merz, angesichts der Nachricht, dass China heute mit dem Asean-Pakt die größte Freihandelszone der Welt geschaffen hat: "Wir haben andere Probleme, die wir lösen müssen, wenn wir hier ernsthaft über die Frage reden wollen ..." - "... ob Männer und Frauen gleichberechtigt sind?", grätscht Annalena Baerbock dazwischen.

Der Beginn einer Wutrede, die ausnahmsweise sogar das Thema der Sendung berührt: "Wenn wir darüber reden, wie wir in zehn Jahren leben wollen, sollte die Hälfte der Bevölkerung mitgedacht werden. Fakt ist: Es gibt strukturelle Diskriminierung von Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Trans-Menschen."

Als Baerbock fertig ist, versucht Merz eine letzte Rechtfertigung: "Das ist doch alles gar kein Widerspruch zu dem, was ich gesagt habe." - "Doch. Sie sagen, das ist alles Gedöns, und wir sollen uns um China kümmern."

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Da ist die Sendung dann aber auch schon fast vorbei. "Wir könnten noch ewig weiterdiskutieren, ne?", sagt Will, und es klingt ungefähr so ehrlich wie die übertrieben höffliche Verabschiedung der lästigen Schwiegereltern.

So richtig was anfangen kann sie an diesem Abend weder mit ihren Gästen noch mit dem Thema. Das bemerkt auch Friedrich Merz, der immer wieder anmerkt, dass es schon wieder um Tagespolitik geht statt um Ideen für die Zukunft.

Der seltsame Auftritt lässt nur zwei Möglichkeiten zu: Entweder hatte Will an diesem Abend schlicht keine Lust - oder, nun ja, keine Vision für ihre Sendung.

Was ist das Ergebnis?

Zur Ehrenrettung der Gastgeberin sei gesagt: Sie hat Merz, Scholz und Baerbock auch nicht mit Waffengewalt daran gehindert, einfach ein paar konkrete Ideen vorzustellen. Trotzdem keine Rede von wirklich progressiven Vorschlägen wie bedingungslosem Grundeinkommen, einhundert Prozent Erbschaftssteuer, Steuern auf Leerstand in Mietwohnungen.

Keine Diskussion darüber, was wir essen wollen, welchen Einfluss die Kirchen noch haben sollen in einer säkularisierten Gesellschaft, wer Scholz, Merz und Baerbock einst pflegen soll und wo. Kein Wort über den Zugriff auf Smartphones durch Google und Geheimdienste, keines über Overtourism und Wegwerfgesellschaft.

Von Merz bleibt außer seiner typischen "Gürtel enger schnallen"-Rhetorik nur der Vorschlag hängen, dass Start-Ups zehn Jahre lang keine Steuern zahlen sollen – und der Eindruck, dass er als Machtpolitiker vom alten Schlag gerade im Vergleich mit den grünen Spitzenfiguren Annalena Baerbock oder Robert Habeck einen Anachronismus darstellen würde in der Bundestagswahl 2021. Und ganz sicher keinen potenziellen Koalitionspartner.

Baerbock fordert zwar kämpferisch "radikale" Änderungen in der Wirtschaft, wie der Weg zu einer Null-Emissionen-Industrie aber genau aussehen kann, wird auch nicht klar. Und Olaf Scholz? Ist viel zu beschäftigt damit, seine Rolle als Corona-Krisenmanager ins beste Licht zu rücken, um sich mit der Zukunft zu beschäftigen.

Vielleicht trifft sich diese Besetzung ja im Wahlkampf wieder, dann bei einem TV-Duell – bis dahin sollten sie sich ein paar klare, verständliche Rezepte für die nächsten Jahre in Deutschland zurechtgelegt haben. Wenn sie schon keine Visionen haben.

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