• Nach schlechten Wahlergebnissen, einem Sexismus-Skandal und dem Rücktritt von Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow steht die Linke vor einer ungewissen Zukunft.
  • Bei einem Parteitag im Juni soll der Vorstand deshalb vorzeitig neu gewählt werden.
  • Für die zukünftige Führung wird es nicht leicht, die zerstrittene Partei zu einen.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autoren einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Die Lage bei der Linken ist ernst. Diese Feststellung kommt nicht nur aus den Medien, sondern auch aus der Partei selbst. Bodo Ramelow, linker Ministerpräsident in Thüringen, warnte zuletzt vor ihrem Verschwinden. Gregor Gysi, neben Sahra Wagenknecht ihr bekanntester Vertreter, sprach in einem Interview mit der "Rheinischen Post" von einer Existenzkrise: "Es geht für uns um alles."

Die Unruhe kommt nicht von ungefähr: Bei der Bundestagswahl 2021 rutschte die Linke unter die Fünf-Prozent-Hürde und blieb nur dank drei Direktmandaten im Parlament. Bei der Saarland-Wahl im März stürzte sie von 12,8 auf 2,6 Prozent, aktuellen Umfragen zufolge wäre sie auch in den nächsten Landtagen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen nicht vertreten. Und dann berichtete der "Spiegel" (Bezahlinhalt) auch noch über einen Sexismus-Skandal im hessischen Landesverband, aus dem die Bundesvorsitzende Janine Wissler stammt. Unter anderem wegen dieser Vorfälle trat ihre Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow gerade nach rund einem Jahr im Amt zurück.

Partei wählt neuen Vorstand

Neben privaten Belastungen führte Hennig-Wellsow unter anderem an, ein "wirklicher Neuanfang" sei nach der Bundestagswahl 2021 ausgeblieben. Die Wählerinnen und Wähler hätten eine Entschuldigung verdient – und die Partei brauche "neue Gesichter, um glaubwürdig zu sein". Bei einem Parteitag Ende Juni soll der komplette Vorstand deshalb neu gewählt werden. Zudem ist eine Reform der internen Strukturen geplant, die zu schnelleren Entscheidungen und einer besseren Zusammenarbeit von Parteigremien, Landesverbänden und Fraktion führen soll. Auf die Fälle von mutmaßlicher sexualisierter Gewalt will die Linke mit einer Aufklärungskommission sowie Anlaufstellen für Betroffene reagieren.

Zum wiederholten Mal soll nun also ein "Neustart" her. Bis dahin führt Wissler, die auch selbst wegen ihres Verhaltens rund um die Vorfälle in Hessen in der Kritik steht, die Partei alleine. Eine Kandidatur für den Vorsitz erwägt offiziell bisher nur der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann. Er gilt in der Partei als bürgernaher Kümmerer und hat mit seinem Leipziger Direktmandat dazu beigetragen, dass es die Linke 2021 überhaupt wieder in den Bundestag geschafft hat.

Dauerstreit verdeckt parlamentarische Arbeit

An anderer Stelle sind die Beharrungskräfte größer: Der Vorstand der Bundestagsfraktion mit Dietmar Bartsch und Amira Mohamed-Ali an der Spitze will nach jetzigem Stand weitermachen. Das gefällt nicht jedem in der Partei und zeigt einmal mehr das Grundproblem der Linken in den vergangenen Jahren.

Die wichtige Arbeit ihrer Abgeordneten im Bundestag geht häufig unter im Streit zwischen Gruppierungen innerhalb der Fraktion sowie zwischen Fraktion und Partei. "Zerstrittene Parteien werden nicht gewählt", sagte Susanne Hennig-Wellsow denn auch nach der Saarland-Wahl. Dort hatte die Partei 2009 unter Oskar Lafontaine noch mehr als 20 Prozent erreicht.

Parteivize Martina Renner: "Über alle möglichen Lösungen reden"

Auch Martina Renner sieht hier ein zentrales Problem. Die Rechtsextremismus-Expertin hat sich in Thüringen und später im Bundestag mit ihrer Arbeit rund um die noch immer nicht vollständig aufgeklärten Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) einen Namen gemacht. Seit 2018 ist Renner stellvertretende Parteivorsitzende." Es wäre viel gewonnen, wenn wir uns in Zukunft auf Standpunkte festlegen und sie dann gemeinsam eindeutig vertreten", sagt Renner im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wenn man sich geeinigt hat, darf es nicht passieren, dass kurz danach Leute mit anderen Auffassungen nach außen gehen."

Diskutiert wird derzeit, dass die neuen Parteivorsitzenden auch die Führung im Parlament übernehmen. Ein Modell, das Renner zumindest nicht ausschließen will: "Wir sollten über alle möglichen Lösungen reden."

Vorwürfe wegen Übergriffigkeit auch in der Fraktion

Des Weiteren prangert sie mutmaßliche Sexismus-Fälle in der Fraktion an. Sie sagte dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" (RND), dort herrsche "ein Grundklima, das auch übergriffiges Verhalten beflügelt." Ihren Angaben nach gibt es "Männer in der Fraktion, die sich alles herausnehmen und dafür bisher nie sanktioniert wurden". Seit sie im Bundestag sei, kenne sie Fälle von Abgeordneten, "die Kolleginnen gegenüber übergriffig geworden sind", so Renner weiter. Das RND zitiert in dem Bericht Beschuldigungen weiterer weiblicher Abgeordneter, die jedoch nicht namentlich genannt werden. Die Fraktionsvorsitzenden Bartsch und Mohamed Ali teilten mit, entsprechende Vorwürfe seien ihnen bisher nicht bekannt gewesen: "Wir sehen in unserer Fraktion keinen strukturellen Sexismus."

Bisher keine laute Stimme gegen Ampel-Koalition

Eigentlich wären die Zeiten für eine linke Oppositionspartei derzeit günstig: SPD und Grüne setzen in der Regierung mit der FDP nicht alle sozialpolitischen Ziele durch und muten einem bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft auch mit den Waffenlieferungen im Kontext des Kriegs in der Ukraine viel zu. "Die Ampel-Koalition ist eigentlich eine Chance für uns", sagt Renner.

Die Linke müsse deutlich machen, dass vieles, was sich die Koalition vorgenommen hat, nicht oder nur inkonsequent angepackt wird: die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad, eine Neuausrichtung der Sozialversicherungssysteme oder bezahlbare Mieten. "Darauf müssen wir druckvoll und eindeutig hinweisen. Es ist Ausdruck unserer Krise, dass uns das bis jetzt nicht ausreichend gelungen ist", sagt Renner.

Abgeordnete Clara Bünger: "Wenn 44 Leute diskutieren, dauert das zu lange"

Renner wird als mögliche Parteivorsitzende gehandelt. Ein neues Gesicht an der Spitze wäre auch Clara Bünger, zweitjüngste Abgeordnete der Fraktion und erst seit Januar im Bundestag. Die aus Niedersachsen stammende Juristin zog über die sächsische Landesliste ein und machte im Rahmen ihres Rechtsreferendariats unter anderem Station beim Auswärtigen Amt. Außerdem arbeitete sie ein Jahr lang auf der griechischen Insel Chios mit Geflüchteten für die von ihr mitgegründete Menschenrechtsorganisation Equal Rights Beyond Borders.

"Die Linke ist nicht in der besten Verfassung und braucht einen Neustart", sagt die Politikerin im Gespräch mit unserer Redaktion. Klarere Entscheidungsstrukturen müssen ihr zufolge her, der Parteivorstand bestehe derzeit aus 44 Personen, jener der Grünen aus sechs: "Wir leben in einer sehr schnelllebigen Welt, und wenn 44 Leute miteinander diskutieren, dauert das zu lange." Darüber hinaus brauche es auch Personen in der Führung, die Erneuerung verkörpern.

Wer das sein könnte? Martina Renner habe viel Erfahrung, sei angesehen bei Verbänden und agiere äußert professionell, findet Bünger: "Das sollte Vorbild für die zukünftige Spitze sein." Als Ergänzung hilfreich wäre ihr zufolge ein "frisches Gesicht", das bisher nicht im Parteivorstand war und eine andere Perspektive mitbringt. "Im besten Fall mit Erfahrung im NGO-Bereich", sagt sie. Beides trifft auf sie selbst zu. Könnte sie sich vorstellen, zu kandidieren? Dazu möchte sich Bünger derzeit ebenso wie Renner nicht äußern.

Zweitälteste Fraktion im Parlament

Sich selbst zählt die 35-Jährige jedenfalls zu einer neuen Generation von Politikerinnen, von denen es bisher zu wenig in ihrer Fraktion gebe. Die Linke ist gemessen am Durchschnittsalter ihrer Abgeordneten die zweitälteste Fraktion im Parlament. "Es ist wichtig, dass auch Menschen, die sich vor Ort engagieren, eine Stimme im Bundestag bekommen", sagt Bünger mit Blick auf ihren Schwerpunkt Flucht und Asyl. Sie ist unter anderem bei der Seenotrettungsinitiative "Seebrücke" aktiv.

Bisher habe es die nach der Bundestagswahl versprochenen strukturellen Veränderungen nicht gegeben, kritisiert sie: "Irgendwann muss etwas passieren, sonst wird man unglaubwürdig." Potenzial für eine neue Einheit in der Partei sieht sie in "linken Kernbotschaften", die wieder im Vordergrund stehen müssten: "Wir sind die Partei der Menschenrechte und des Völkerrechts. Das muss aber auch mit Inhalt gefüllt werden".

Die Linke müsse sich beispielsweise noch stärker gegen die Politik an den Außengrenzen der EU stellen. Jeden Tag gibt es Bünger zufolge etwa Menschenrechtsverletzungen durch sogenannte Pushbacks, also illegale Zurückweisungen von Personen. In Griechenland seien über die Grenzschutzagentur Frontex auch deutsche Beamte daran beteiligt. An der polnisch-belarussischen Grenze würden zudem immer noch Leute zurückgedrängt, während Deutschland Menschen aus der Ukraine aufnehme. Letzteres sei gut und wichtig, sagt Bünger: "Gleichzeitig dürfen wir aber nicht andere Geflüchtete im Wald sterben lassen, sondern müssen dafür streiten, allen das Recht auf Schutz zu ermöglichen."

Klimaschutz, Corona, Russland: Viel zu klären

Büngers Kurs passt zu den Interessen vieler junger Menschen, die in den letzten Jahren über die Arbeit mit Geflüchteten oder die Klimabewegung den Weg in die Linke gefunden haben oder mit ihr sympathisieren. Doch ein Fokus auf diese Bereiche ist umstritten. Andere Teile der Parteien wollen stärker auf Sozialpolitik als klassischen "Markenkern" setzen.

Zu großen Themen wie Klimaschutz, Corona-Politik und der Haltung gegenüber Russland gibt es keine einheitlichen Positionen, was die Arbeit der zukünftigen Führung umso schwerer machen dürfte. Gregor Gysi sagte, die nächste Bundestagswahl werde entscheiden, "ob es für die Linke als politische Partei eine Zukunft gibt". Die Zeit läuft.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Martina Renner und Clara Bünger
  • RND.de: Wie die Linke mit ihrem Sexismusproblem kämpft
  • RP-Online.de (Rheinische Post): Gregor Gysi: "Putin hat sein eigenes Ende eingeleitet"
  • Spiegel.de: Vorwurf sexueller Übergriffe bei der Linken - "Entweder, wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht"
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