Die Grünen stehen zurzeit in starkem Gegenwind. Beim Parteitag in Karlsruhe sprechen sich Delegierte und Führungspersonen Mut zu. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sagt im Interview mit unserer Redaktion: "Wer Fragen hat, braucht von uns als Partei bessere Antworten."
Draußen ist es kalt, grau und stürmisch. Das passt zur Lage der Partei: In Karlsruhe kommen die Grünen seit Donnerstag zum Bundesparteitag in stürmischen Zeiten zusammen. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen gab es Wahlschlappen, aus Sicht vieler Mitglieder setzen die Grünen in der Bundesregierung zu wenig um – und aus Sicht ihrer Gegner sind sie trotzdem an allem Schuld.
Hinzu kommt: Die Ampel-Koalition muss noch mehr sparen als ohnehin schon. Bundestagsvizepräsidentin
Frau Göring-Eckardt, wie lange hält die Ampel-Koalition noch?
Katrin Göring-Eckardt: Alle wissen um die Verantwortung. Deshalb: Die Koalition hält – und sie wird halten. Natürlich sind die Ampel-Parteien sehr unterschiedlich, aber wir können uns nach jedem Streit auch wieder zusammenraufen. Das haben wir bereits gezeigt.
Trotzdem könnte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die komplette Finanzplanung der Regierung kippen. Die FDP will weder neue Schulden noch Steuererhöhungen. Was nützt diese Koalition ihrer Partei noch, wenn Sie Ihre klima- und sozialpolitischen Anliegen nicht umsetzen können?
Es geht nicht darum, was eine Koalition einer Partei nützt. Es geht darum, was für unser Land notwendig ist. Die wichtigen Projekte werden wir umsetzen müssen. Dazu gehören die Wärmewende, der klimaneutrale Umbau der Industrie und ein Turbo bei den Erneuerbaren Energien. Dazu gehört selbstverständlich der soziale Ausgleich: Gerade in Krisenzeiten braucht es Sicherheit und Gerechtigkeit. Klimaschutz braucht den sozialen Ausgleich für alle, die ihn brauchen. Auch Unternehmen brauchen Planungssicherheit und Unterstützung. Das ist im Interesse unseres Landes.
CDU/CSU stellen auch die Einführung der Kindergrundsicherung zur Diskussion – ein wichtiges Anliegen der Grünen.
Es geht darum, dass alle Familien, die Anspruch auf diese Unterstützung haben, sie auch wirklich bekommen. Wir helfen damit vor allem den Familien, die schon jetzt Anspruch auf dieses Geld haben, sich aber nicht trauen, es zu beantragen. Wir schaffen keine zusätzliche Nice-to-have-Leistung, sondern sichern Basisschutz ab und bekämpfen Armut.
Worauf wollen Sie denn verzichten, um zu sparen?
Alles gehört auf den Tisch, auch die umweltschädlichen Subventionen. Da sehe ich Einsparpotenzial in Milliardenhöhe. Wir müssen doch nicht acht Milliarden Euro für die Subventionierung von Flugbenzin oder drei Milliarden Euro für Steuervorteile für Dienstwagen ausgeben. Das habe ich noch nie verstanden. Es ist richtig, dass der Finanzminister Lindner bereit ist, die Schuldenbremse auszusetzen. Das ist eine gute Grundlage für die weiteren Gespräche.
Katrin Göring-Eckardt: "Große Koalition hat den allerkleinsten gemeinsamen Nenner verwaltet"
Die Ampel-Parteien geben seit Monaten ein zerstrittenes Bild ab. Wozu braucht das Land diese Koalition noch zwei weitere Jahre?
Die multiplen Krisen verpuffen doch nicht, wenn es einen Regierungswechsel geben würde: Frieden in Europa absichern, Jobs und Zukunftsindustrien in Deutschland halten, neuen Wohlstand ermöglichen. Das muss jetzt gemacht werden. Was wäre die Alternative? Eine Koalition aus Union und SPD. Viele scheinen vergessen zu haben: Unter der Großen Koalition hat dieses Land sehr lange geächzt. Sie hat den allerkleinsten gemeinsamen Nenner verwaltet, aber sich keinen Fortschritt getraut. Wir brauchen jetzt eine Regierung, die den Staat tragen will und sich dafür über alle Maßen anstrengt und auch Kompromisse eingeht, die wehtun. Diese Bereitschaft sehe ich bei CDU und CSU nicht.
Kompromisse sind ein gutes Stichwort. Aus Sicht von einigen Mitgliedern verbiegt sich Ihre Partei viel zu sehr. In einem Offenen Brief beklagen sie, die Grünen seien zu einer "Werbeagentur für schlechte Kompromisse" geworden.
Wir haben in den vergangenen Jahren viele neue Mitglieder gewonnen, die die Bündnisgrünen als angesagte Oppositionspartei kennengelernt haben. Jetzt gibt es Gegenwind – und ich verstehe Verunsicherung und Enttäuschung. Kompromisse sind oft eine Zumutung. Sie gehören aber zum Regieren dazu. Das ist Verantwortung. Wir setzen um, was in dieser Koalition möglich ist. Jeder weiß, dass wir anders handeln würden, wenn wir ganz allein regieren würden.
Auf dem Parteitag werden die Mitglieder auch über die Migrationspolitik diskutieren – auch da haben die Grünen zuletzt Entscheidungen zugestimmt, die mit der früheren Offenheit gegenüber Flüchtlingen wenig zu tun haben. Haben die Grünen sich einer zunehmend migrationskritischen Haltung in der Bevölkerung gebeugt?
Es gibt in der Partei eine große Klarheit anzuerkennen, dass die Situation in den Kommunen nicht einfach ist und dass Politik darauf natürlich reagieren muss. Wir wollen aber keine Scheinmaßnahmen ins Schaufenster stellen, die am Ende nicht wirksam sind. Humanität und Ordnung gehören für uns zusammen. Wir müssen Ordnung schaffen. Die Kommunen brauchen Verlässlichkeit und vorausschauende Planbarkeit von nötigen Kapazitäten. Menschen werden auch in Zukunft auf der Flucht sein. Deswegen gehört Ordnung zur Humanität und übrigens auch zur Freiheit dazu.
Obwohl die Grünen zuletzt viele Kompromisse gemacht haben, sind sie für viele Menschen zum Feindbild geworden. Politikerinnen und Politiker und auch ganz normale Mitglieder werden beschimpft, bedroht, zum Teil tätlich angegriffen. Was macht das mit der Partei?
Viele in unserer Partei kennen das schon lange, für andere ist das eine neue Erfahrung. Aber die Diffamierung ist härter, persönlicher geworden, das muss man schon sagen. Da spielen soziale Netzwerke eine Rolle – ich habe meine ersten Beschimpfungen noch per Postkarte bekommen. Daneben gibt es auch respektvolle Kritik. Und das ist gut. Wer Fragen hat, braucht von uns als Partei bessere Antworten: Wie stellen wir uns den Zusammenhalt vor? Wie wollen wir Klimaneutralität erreichen? Dazu müssen wir mit den Leuten reden, uns ihren Alltag anschauen – nicht nur in den Städten. Wir müssen die Politik vom Land her denken.
Angriffe von außen können aber auch dazu führen, dass sich die Partei in einer Wagenburg verschanzt. Dass man sich verschwört gegen die anderen, die einen angreifen.
Rückzug in die Nische wäre absolut falsch. Es reicht nicht, nur mit Menschen zu reden, mit denen man sowieso einer Meinung ist. Wenn ich nur mit den Leuten rede, die mich bestätigen, bringt das niemanden weiter. Reibung erzeugt Wärme, und das ist gut für eine Gesellschaft.
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Über die Gesprächspartnerin
- Katrin Göring-Eckardt wurde 1966 im thüringischen Friedrichroda geboren. Sie studierte Theologie (ohne Abschluss) und gehörte zur Wendezeit zu den Mitbegründern von Bündnis 90. Nach der Fusion mit den Grünen zog sie 1998 erstmals in den Bundestag ein. Seit 2021 ist sie zum zweiten Mal dessen Vizepräsidentin.
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