• Im Interview mit unserer Redaktion fordert CDU-Politiker Jens Spahn längere Laufzeiten für Atomkraftwerke und eine Prüfung des Frackings in Deutschland.
  • "Je kürzer die Kernkraftwerke laufen, desto mehr wird die Kohlekraft ans Netz müssen", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag.
  • Zudem erklärt der frühere Bundesgesundheitsminister, welche Bevölkerungsgruppe er wegen der Corona-Politik um Verzeihung bitten muss.
Ein Interview

Herr Spahn, angenommen, Sie wären in der aktuellen Lage einen Tag lang Bundeskanzler – was würden Sie anders machen als die Bundesregierung?

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Jens Spahn: Mit Blick auf diese Sitzungswoche sollte der Bundeskanzler dafür sorgen, dass die drei Kernkraftwerke mindestens bis Ende 2024 laufen. In dieser Situation muss alles in die Stromerzeugung kommen, was die Versorgung sichert und Preise stabilisiert.

Atomkraftgegner halten einer Laufzeitverlängerung entgegen: Die Kernkraft macht nur noch einen kleinen Teil der deutschen Stromerzeugung aus – und verstopft zudem die Netze für Strom aus Erneuerbaren Energien.

Die Kernkraft macht im Moment zwischen sechs und acht Prozent der Stromerzeugung aus. Wenn jede Kilowattstunde zählt, dann zählt auch dieser nennenswerte Anteil. Außerdem ist die Kernkraft klimaneutral. Ich werde nie verstehen, dass die Grünen lieber die Klimakiller Kohle und Öl mehr laufen lassen. In Jänschwalde ist gerade das älteste und schmutzigste Kohlekraftwerk Deutschlands aus DDR-Zeiten wieder ans Netz gegangen. Je kürzer die Kernkraftwerke laufen, desto mehr wird die Kohlekraft ans Netz müssen. Außerdem ist die Aussage falsch, es würden Windräder wegen der Kernkraftwerke abgeriegelt. Der Bericht der Netzbetreiber zeigt, dass das Gegenteil richtig ist: Das Kernkraftwerk in Lingen sorgt für höhere Netzstabilität – und dadurch kann mehr Wind-Strom vom Norden in den Süden transportiert werden.

Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass es im Winter zu einem Blackout kommt, also zu einem großflächigen Stromausfall?

Die Gefahr eines plötzlichen Blackouts ist sehr gering. Doch die Gefahr von regionalen "Brownouts" ist real, also angekündigte, regional begrenzte Stromausfälle. Wenn man die drei Kernkraftwerke nicht laufen lässt, kann es zu solchen Abschaltungen kommen, etwa von Großverbrauchern.

Voraussichtlich wird der Bundestag in dieser Woche eine Verlängerung der Laufzeiten der drei Atomkraftwerke bis Mitte April 2023 beschließen. Rechnen Sie damit, dass die Diskussion über das Thema im Frühjahr erneut losgeht?

Das ist nur zu hoffen. In diesem Jahr haben wir bis in den Sommer hinein die Speicher auch mit russischem Gas aufgefüllt. Das wird 2023 nicht mehr möglich sein. Stand heute müssen wir deshalb damit rechnen, dass der Winter 2023 noch härter wird. Wir werden in dieser Woche im Bundestag beantragen, jetzt Brennstäbe zu bestellen. Damit man nicht im März sagen kann, jetzt wäre es zu spät dafür. Die Debatte über die Kernkraft über den April hinaus müsste eigentlich jetzt geführt werden, basierend auf einer objektiven Analyse des Strombedarfs und der Versorgungssicherheit.

Jens Spahn: "Man muss das Fracking ergebnisoffen prüfen"

CDU und CSU sprechen sich auch dafür aus, in Deutschland die Förderung von Gas mit der umstrittenen Fracking-Technologie zu prüfen. Dabei waren Sie vor einigen Jahren noch dagegen. Woher kommt der Umschwung?

Wir sollten in dieser Energiekrise alle einen Schritt zurücktreten und unsere bisherigen Positionen zumindest auf den Prüfstand stellen. Es ist eine offenkundige Lehre aus den letzten Monaten, dass wir unabhängiger werden müssen von Energie aus dem Ausland. Wir müssen uns also anschauen, wo wir noch heimische Energievorräte haben. Dazu gehört die Erdgasförderung unter der Nordsee und dazu gehört auch das Fracking. Einige Experten sagen sogar, dass wir unseren Gasbedarf für die nächsten 15, 20 Jahre aus eigenen Vorkommen decken könnten. Dann muss man das Fracking zumindest ergebnisoffen prüfen.

Beim Fracking werden Gesteine durch Bohrungen und mit dem Einsatz von Chemikalien aufgebrochen. Das Bundesumweltministerium lehnt die Technik ab – und verweist auf Lärmbelastung und Gefahren für das Trinkwasser.

Es gibt den Bericht einer Expertenkommission, die von Bundestag und Bundesregierung beauftragt wurde. Sie hat gezeigt, dass der technologische Stand beim Fracking heute deutlich weiter ist als vor zehn Jahren. Gerade importieren wir Flüssiggas aus den USA und lagern damit mögliche Folgen des Frackings in ein anderes Land aus, um selbst moralisch auf der Höhe zu bleiben. Das finde ich schwierig, und das macht uns zudem abhängig von den USA. Außerdem ist dieses importierte Gas ziemlich teuer. Damit treiben wir die Preise mit – auf ein so hohes Niveau, dass viele Entwicklungsländer gerade gar kein Gas mehr kaufen können. Irgendwann wird man die Deutschen fragen müssen: Wollt ihr, dass der Gaspreis weiterhin hoch bleibt, weil wir Gas aus den USA importieren? Oder sollen wir versuchen, unseren Gaspreis zu senken und unabhängiger zu werden, indem wir selbst fördern?

Das Problem wäre doch: Über die Energie würde sich wohl jeder freuen – aber kaum jemand will, dass in der eigenen Nachbarschaft Fracking betrieben wird.

Deswegen müsste man es mit möglichst viel Akzeptanz umsetzen. Dazu müsste man sich anschauen: Welche Risiken bestehen für das Landschaftsbild oder das Grundwasser? Keine Art der Energiegewinnung ist ohne Folgen. Die Menschen, die im Bereich der Braunkohle-Tagebaue leben, haben enorme Einschnitte hingenommen für die Energieversorgung im Rest der Republik. In der Großstadt beschwert sich niemand über Windräder, weil es kaum welche gibt. In meiner eigenen Heimat steht ein Zwischenlager für Atommüll. Das ist auch okay, irgendwo muss er ja hin.

"Die Koalition entscheidet gar nicht, zu langsam oder zu halbherzig"

Müssen Sie der Ampel-Koalition nicht auch zugestehen, dass sie den Ausbau der Erneuerbaren Energien wirklich angeht, während die Große Koalition zuvor vor allem Ziele formuliert hat?

Die Ansätze der Ampel sind gut. Es gibt jetzt ein Wirtschaftsministerium, das die Richtung vorgibt und das Umweltministerium tritt endlich beim Natur- und Artenschutz zurück. In der Großen Koalition ist uns das so nicht gelungen. Tatsächlich umgesetzt ist bislang jedoch wenig. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat das Ausbauziel von zehn Gigawatt Windkraft ab 2024 ausgegeben. Davon ist er weit entfernt. Ich würde mich freuen, wenn es klappt. Ich muss auch sagen: Chapeau, dass es gelingt, in sechs Monaten in Deutschland ein Flüssiggas-Terminal plus Pipeline-Anschluss zu bauen. Das sollte auch in anderen Bereichen gelingen, zum Beispiel bei Schienenprojekten oder beim Netzausbau.

Sie haben in Ihrer Zeit als Bundesgesundheitsminister in der Corona-Krise einen berühmten Satz gesagt, der auch Titel Ihres Buches ist: Wir werden einander viel verzeihen müssen. Kann auch die jetzige Bundesregierung erwarten, dass man ihr Fehler verzeiht?

Ich unterstelle erst mal, dass Robert Habeck und die Bundesregierung auch das Beste für das Land erreichen wollen. Aus meiner eigenen Krisenerfahrung heraus werde ich nicht kritisieren, wenn sie schnell Entscheidungen trifft und diese dann korrigieren muss. Wir kritisieren aber, dass zu wenig entschieden wird. Ob es die Gaspreisbremse ist oder die Kernkraftwerke: Die Koalition entscheidet gar nicht, zu langsam oder zu halbherzig. Und das führt zu Verunsicherung und stärkt aktuell leider die politischen Ränder.

Es gibt aber auch Entscheidungen, die an der Union scheitern könnten. Sie wollen zum Beispiel im Bundesrat der Einführung des Bürgergelds nicht zustimmen. Wollen Sie wirklich in Krisenzeiten als Blockierer dastehen?

Wir sind eine konstruktive Opposition. Wir übernehmen Verantwortung in schwerer Zeit, weil wir wollen, dass es Deutschland gut geht. Die Koalition hat übrigens vieles umgesetzt, was ursprünglich wir im Bundestag eingebracht haben. Dass ein Gas-Grundbedarf nicht teurer als 12 Cent pro Kilowattstunde sein soll, haben wir schon vor Monaten beantragt. Die Deckelung für Biogasanlagen entfällt, die Gasumlage ist weg. Wir werden in dieser Woche auch zustimmen, dass der Staat den Dezemberabschlag für Gaskunden übernimmt – auch wenn wir uns mehr gewünscht hätten.

Und das Bürgergeld?

Wir würden einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze sofort zustimmen. Wir werden das sogar in dieser Woche beantragen, um deutlich zu machen: Ein Inflationsausgleich zum 1. Januar für Menschen mit sehr geringen Einkommen ist mit uns jederzeit möglich. Dass beim sogenannten Bürgergeld aber Sanktionen wegfallen und das Schonvermögen erhöht wird, lehnen wir ab. Weil es Arbeit über Gebühr entwertet. Auf solche Missstände hinzuweisen, ist unsere Aufgabe als Opposition.

"China ist in einer fatalen Sackgasse gelandet"

Um noch einmal auf das "Verzeihen" zurückzukommen: Ihr Nachfolger Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat in der vergangenen Woche gesagt, dass Kita-Schließungen in der Pandemie rückblickend nicht nötig waren. War die Schließung ein Fehler?

Ich kommentiere weder meinen Nachfolger noch tagesaktuelle Corona-Politik. Die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und ich hatten bereits Ende 2020 erste Ergebnisse einer Kita-Studie vorgestellt, die zu sehr ähnlichen Ergebnissen kam. Wir hätten diese Position rückblickend energischer vertreten müssen. In meinem Buch schreibe ich: Wenn es eine Bevölkerungsgruppe gibt, die wir ganz sicher um Verzeihung bitten müssen, dann sind es Familien mit Kindern. Was diese Zeit mit Kindern und Jugendlichen gemacht hat, zeitweise ohne Unterricht, ohne Freunde, verlorene Bildungschancen, war zu lange zu wenig im Fokus.

In der Corona-Krise hieß es immer wieder: Wenn diese Pandemie vorbei ist, wird das alles aufgearbeitet. Passiert das schon genug?

Ich nehme wahr, dass jeden Tag darüber diskutiert wird. In den Medien, in der Gesellschaft, im Bundestag. Auch der Expertenrat hat die Maßnahmen bewertet. Wir wollten eine Überforderung des Gesundheitssystems vermeiden, damit wir jeden jederzeit angemessen behandeln können. Wir wollten und konnten aber nicht jede einzelne Infektion vermeiden. Dieser Weg hatte eine hohe Akzeptanz und war richtig. China zum Beispiel ist mit einer Null-COVID-Politik, die auch hierzulande von vielen Seiten gefordert wurde, in einer fatalen Sackgasse gelandet.

Zur Person: Jens Spahn wurde 1980 in Ahaus im Münsterland nahe der niederländischen Grenze geboren. 1995 wurde er Mitglied der Jungen Union, 1997 der CDU. Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Bankkaufmann und studierte danach Politikwissenschaft. 2002 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt, wo er 2009 bis 2015 gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion war. 2015 bis 2018 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und 2018 bis 2021 als Bundesgesundheitsminister oberster Corona-Krisenmanager der Bundesregierung. Inzwischen ist Spahn als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Wirtschaftspolitik zuständig.

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