- Das Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Am Mittwoch diskutiert der Bundestag erstmals über die neue Grundsicherung.
- Der Regelsatz wird steigen. Gleichzeitig sollen Menschen in Zukunft besser den passenden Job finden.
- Eine Übersicht zur geplanten Reform der Ampel-Koalition, zur Kritik am Konzept – und zu offenen Fragen.
Keine Sozialreform hat Deutschland in diesem Jahrhundert so beschäftigt wie Hartz IV. 2005 legte die damalige rot-grüne Bundesregierung Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer Grundsicherung zusammen. Die nach dem ehemaligen VW-Manager Peter Hartz benannte Reform brach alte Strukturen auf, in den Jahren danach sank die hohe Arbeitslosenquote nachhaltig. Doch viele Betroffene und Verbände klagten auch über Gängelung auf den Jobcentern, fürchteten ein dauerhaftes Abrutschen in die Armut.
Jetzt regieren SPD und Grüne erneut, dieses Mal zusammen mit der FDP. Die Ampel-Koalition will Hartz IV durch ein neues Bürgergeld ersetzen. Doch ob die Reform der Reform wirklich kommt, ist bisher unklar: CDU und CSU wollen den Gesetzentwurf im Bundesrat blockieren. Was genau ist das Bürgergeld? Und warum sind die Pläne so umstritten?
Bürgergeld statt Hartz IV – das wird sich ändern
Höhere Regelsätze
Vom Regelsatz bezahlen Empfängerinnen und Empfänger tägliche Ausgaben für Essen, Kleidung, Hygieneartikel und Strom. Derzeit erhalten Alleinstehende 449 Euro im Monat. Der Betrag deckt ganz klar nur ein Existenzminimum ab. Für Essen und Trinken sind zum Beispiel pro Tag 5,19 Euro vorgesehen.
Ab Januar 2023 steigt der Regelsatz nun auf 502 Euro. Dem Bundessozialministerium zufolge ist es die höchste Anhebung seit Einführung der Grundsicherung 2005. Bisher wurde der Regelsatz erst nachträglich an die Inflation angepasst. Jetzt soll eine neue Art der Berechnung Preissteigerungen schneller auffangen.
Schon die Diskussion um die Regelsätze zeigt allerdings, wie unterschiedlich die Meinungen zu Hartz IV und Bürgergeld sind. Soll die Grundsicherung in erster Linie ein würdiges Leben ermöglichen? Oder soll sie so knapp bemessen sein, dass die Bezieher alles daran setzen müssen, schnell wieder zu arbeiten?
Aus Sicht von CDU/CSU und AfD sind die Regelsätze zu hoch. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter teilt mit: Arbeitende Menschen würden so benachteiligt gegenüber Sozialleistungsempfängern, "die nahezu ohne Einschränkungen und ohne Leistung umfangreiche Mittel von der Gemeinschaft erhalten".
Weil die Inflationserwartung einberechnet ist, gebe es "faktisch eine doppelte Erhöhung", kritisiert der Abgeordnete Kai Whittaker für die CDU: "Der Abstand zwischen der Grundsicherung und den Gehältern wird geringer. Irgendwann werden sich die Leute fragen, ob es für sie wirklich sinnvoll ist, eine Arbeit anzunehmen."
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Annika Klose sieht das anders. Sie deutet auf das andere Ende der Lohnlücke: "Es ist nicht problematisch, wenn Bürgergeld-Bezieher einen Regelsatz erhalten, von dem sie leben können. Problematisch sind Löhne für Arbeitende, von denen man nicht leben kann."
Aus Sicht der Linken sind die Regelsätze noch viel zu niedrig. Deren Bundestagsabgeordnete Jessica Tatti fordert für Alleinstehende einen Satz von 687 Euro.
Fokus auf Weiterbildung
Die Ampel-Koalition erhofft sich vom Bürgergeld einen Kulturwandel. "Wir wollen die Menschen stärken und ihnen Mut machen. Ziel ist, dass sie gerne ins Jobcenter gehen, weil sie wissen: Da bekommen sie Unterstützung", sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Stephanie Aeffner.
"Die Hartz-IV-Reformen haben ein Problem nicht gelöst: Es gibt immer noch einen sehr stabilen Anteil an Langzeitarbeitslosen, ganz unabhängig von der konjunkturellen Lage. Ihre Zahl wurde nie unter 700.000 gedrückt", sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Jens Teutrine. "Die wichtigste Frage ist: Wie kriegen wir dies gelöst, so dass der Sozialstaat Menschen nicht nur in ihrer Bedürftigkeit versorgt, sondern Perspektiven ermöglicht, um sich aus der sozialen Bedürftigkeit zu befreien?"
Menschen sollen in Zukunft häufiger eine für sie passende Stelle vermittelt bekommen. Sie schließen mit dem Jobcenter einen leicht verständlichen Kooperationsplan, erhalten mehr Mitsprache und Förderung für Weiterbildungen oder Umschulungen.
Bisher sollten die Jobcenter die Menschen so schnell wie möglich in einen Job vermitteln. Stärker als bisher soll nun aber der Grundsatz "Ausbildung vor Aushilfsjob" gelten. "Es darf nicht mehr darum gehen, die Menschen schnell in einen Niedriglohnjob zu drängen. Sie sollen einen qualifizierten Job finden, der zu ihnen passt", sagt die SPD-Abgeordnete Annika Klose.
Höhere Freibeträge
Die Ampel-Koalition regelt auch die Hinzuverdienstmöglichkeiten neu. "Hartz-IV hat über Jahre die absurde Situation geschaffen, dass es sich für die vielen Menschen im Leistungsbezug nicht gelohnt hat, Arbeit aufzunehmen und sich aus der Bedürftigkeit zu befreien", sagt FDP-Politiker Teutrine.
Wenn Erwachsene sich zwischen 520 Euro und 1.000 Euro hinzuverdienen, wird dieses Einkommen künftig mit 70 Prozent statt aktuell mit 80 Prozent angerechnet. Jugendliche und junge Erwachsene in Ausbildung, deren Eltern das Bürgergeld beziehen, können sich künftig 520 Euro hinzuverdienen. Bei ihnen wird die Anrechnung von Minijobs komplett abgeschafft. "Sie sollen die Erfahrung machen können, dass sich Arbeit immer lohnt“, sagte Teutrine.
Die Union kritisiert diese neuen Regeln: "Die Hinzuverdienstmöglichkeiten in Mini- und Midi-Jobs werden so stark verbessert, dass es für die Leute sinnvoller ist, in der Grundsicherung zu bleiben und sich mit einem Mini-Job etwas dazuzuverdienen, statt eine Ausbildung zu machen", sagt CDU-Politiker Whittaker.
Weniger "Sanktionen"
Dieses Thema war besonders umstritten: Im ursprünglichen Hartz-IV-Konzept wurden Empfängerinnen und Empfänger "bestraft", wenn sie einen zumutbaren Job nicht annehmen wollten: Dann konnte das Jobcenter die Zahlungen kürzen. Schon 2019 hat das Bundesverfassungsgericht Kürzungen um 60 Prozent oder mehr aber für verfassungswidrig erklärt.
Die Wirkung dieser Bestrafungen war und ist umstritten. Der Verein Sanktionsfrei hält sie für unmenschlich und wenig effektiv. Auch Grüne und Teile der SPD hätten die Sanktionen gerne abgeschafft. "Die Menschen werden nicht motiviert, eine Arbeit anzunehmen, indem man eine Drohkulisse aufbaut", sagt die Grünen-Abgeordnete Aeffner. Mit der FDP wäre ein komplettes Ende der Sanktionen aber nicht zu machen gewesen – der Grundsatz des "Forderns und Förderns" müsse erhalten bleiben, so Jens Teutrine.
Der Kompromiss lautet nun: Leistungskürzungen kann es weiterhin geben, aber unter strengeren Bedingungen. In den ersten sechs Monaten sind sie ausgeschlossen. Danach sind Kürzungen um 20 oder 30 Prozent möglich, wenn eine Person wiederholt Termine nicht einhält oder andere Pflichten aus der Vereinbarung mit dem Jobcenter verletzt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch: Bei 95 bis 97 Prozent der Menschen in der Grundsicherung wurden Sanktionen auch bisher gar nicht verhängt.
Bürgergeld: Diese Fragen sind noch offen
Können Empfängerinnen und Empfänger steigende Stromkosten schultern?
Steigende Energie- und Strompreise bereiten derzeit vielen Menschen Sorgen. Für Personen in der Grundsicherung gilt: Die Heizkosten gehören zu den Kosten der Unterkunft – und werden damit zurzeit vollständig vom Staat übernommen. Anders ist das bei den Stromkosten: Die müssen die Bezieher aus dem Regelsatz bezahlen.
Die Grünen-Abgeordnete Stephanie Aeffner sieht hier im parlamentarischen Verfahren noch Gesprächsbedarf: "Wenn die Preissteigerungen beim Strom weitergehen, wird das hinten und vorne nicht reichen – da müssen wir noch eine Lösung finden."
Denkbar wäre, dass die Stromkosten in die Kosten der Unterkunft wandern – und dann ebenfalls vom Staat übernommen werden. Allerdings würden dann wohl auch die Regelsätze wieder sinken. Die CDU befürchtet fehlende Anreize zum Sparen – auch jetzt schon beim Heizen: "Es ist schwierig, dass der Staat die tatsächlichen Heizkosten vollständig übernimmt, während alle anderen Energie sparen müssen", findet Kai Whittaker.
Reicht die Ausstattung der Jobcenter?
Ein weiterer Kritikpunkt von Whittaker ist die Ausstattung der Jobcenter: "Die Bundesregierung will das Personal in den Jobcentern verringern und schafft mit dem Bürgergeld zudem mehr Bürokratie. Das wird nicht dazu beitragen, dass sich die Mitarbeiter intensiv mit den Menschen beschäftigen können", sagt Whittaker. Genau das sei aber das A und O für eine erfolgreiche Vermittlung.
Auch die SPD-Abgeordnete Annika Klose ist bei diesem Thema skeptisch: Vorgesehen sei, dass ein Jobcenter-Mitarbeiter für 150 Personen zuständig ist. "Das wäre in Ordnung, wenn es die Realität wäre", sagt Klose. In der Realität liege der Betreuungsschlüssel häufig bei 1 zu 300. "Wenn eine Jobcenter-Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter 300 Leute betreuen muss, lässt sich kaum Vertrauen aufbauen. Dafür braucht es Qualifikation, Zeit und Ressourcen. Für diesen Zweck müssen wir dringend genügend Geld im Bundeshaushalt bereitstellen."
Reform oder Revolution?
Eines ist den Ampel-Parteien gelungen: Sie haben aus ihren teils widersprüchlichen Überzeugungen ein gemeinsames Konzept gebaut. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich die Vorstellungen von SPD, Grünen und FDP in der Sozialpolitik sind und wie sehr die drei Parteien bei anderen Themen über Kreuz liegen.
Unterschiedlich fallen aber die Antworten auf die Frage aus, wie einschneidend oder gar epochal das neue Bürgergeld wirklich ist. Aus Sicht der FDP ist es eine Reform, die die Grundzüge der Grundsicherung erhält. SPD und Grüne verkünden dagegen, man werde Hartz IV "überwinden". Der neue Name sei nicht nur ein Marketingtrick, sondern angebracht, sagt die Grüne Stephanie Aeffner: "Wir drehen an ganz vielen Stellschrauben, die in Summe viel verändern werden."
Klar ist aber auch: Es wird Zeit brauchen, bis das Drehen an diesen Stellschrauben seine Wirkung entfaltet hat. Die Empfängerinnen und Empfänger müssen sich ebenso auf die neue Situation einstellen wie die Mitarbeitenden in den Jobcentern. Wie angebracht ist der neue Name? Lässt sich Hartz IV wirklich "überwinden" und lassen sich die positiven Effekte der Reform trotzdem erhalten? Das wird erst der Praxistest in den kommenden Jahren zeigen.
Verwendete Quellen:
- Gespräche mit den Bundestagsabgeordneten Stephanie Aeffner (Bündnis 90/Die Grünen), Annika Klose (SPD), Jens Teutrine (FDP) und Kai Whittaker (CDU)
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Fragen und Antworten zum Bürgergeld
- Linksfraktion.de: Hartz-IV-Regelsatz endlich ehrlich berechnen!
- AfDkompakt.de: Kabinettbeschluss zum Bürgergeld ist unausgereift
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