Die neue Koalition startet mit einer großen Bringschuld, räumt Jens Spahn ein. Im Interview erklärt der CDU/CSU-Fraktionsvize, wie Schwarz-Rot Vertrauen zurückgewinnen will und warum Friedrich Merz aus seiner Sicht ein "europäischer Anti-Trump" werden könnte.

Ein Interview

CDU, CSU und SPD wollen die nächste Bundesregierung stellen. Doch kurz nach der Vorstellung des Koalitionsvertrags brach bereits eine Diskussion über die Verabredungen zu Mindestlohn und Steuersenkungen los. Ein weiteres schlechtes Omen für die zukünftige Koalition, die schon wegen der internationalen Lage und der großen Skepsis im Land unter massivem Druck steht?

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Der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion von CDU und CSU, Jens Spahn, wird in der Koalition voraussichtlich einen wichtigen Posten bekommen – auch wenn er noch nicht verrät, welcher das sein könnte.

Herr Spahn, Union und SPD haben vergangene Woche einen Koalitionsvertrag vorgelegt – und am Wochenende schon über die Auslegung diskutiert. Ein Fehlstart?

Jens Spahn: Gut sechs Wochen nach der Wahl stand schon fest, welche neue Regierung es geben wird. Das bedeutet Stabilität und Planungssicherheit in stürmischen Zeiten. Wir haben eine große Einigkeit bei den wichtigsten Themen: Wir wollen illegale Migration beenden, Wachstumsimpulse setzen und die innere und äußere Sicherheit stärken. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Nur wenn diese Koalition Deutschland rasch wieder Wachstum und Zuversicht bringt, erfüllt sie ihre eigentliche Aufgabe.

Trotzdem gab es schon mehr Aufbruchstimmung vor einer Regierungsbildung.

Die Ampelkoalition ist mit Euphorie und Gute-Laune-Selfies gestartet. Und dann furchtbar gescheitert. Bei uns ist das anders. Wir starten mit einer Bringschuld und einer skeptischen Grundhaltung vieler Menschen. Sie wollen sehen, dass wir hart arbeiten. Und ich bin überzeugt, dass wir besser regieren werden. Die Stimmung in der werdenden Koalition ist aufgeräumt. Ich kann nach den Verhandlungen sagen: Wir haben wirklich ein gutes persönliches Miteinander gefunden. Auch das ist wichtig.

Der Dauerstreit der Ampelkoalition hat nicht nur die Bevölkerung genervt, sondern auch für wirtschaftliche Verunsicherung gesorgt. Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass die schwarz-rote Koalition es besser macht?

Wir müssen. So einfach ist das. Das ist jetzt der letzte Schuss der demokratischen Mitte. Die Volksparteien Union und SPD müssen zeigen, dass sie einen Unterschied machen wollen und können, gerade bei Migration, Sicherheit, Wachstum, sicheren Jobs. Ich habe ständig dieses Bild von der konstituierenden Sitzung im Kopf, diesen großen Block der AfD im Bundestag. Ein Viertel der Sitze hat jetzt die extreme Rechte.

Was folgern Sie daraus?

Wir müssen Vertrauen in die beiden Volksparteien zurückgewinnen, das wird die entscheidende Aufgabe der nächsten Regierung. Wenn wir das nicht leisten, wird es in vier Jahren ein ganz böses, blaues Erwachen geben.

Also lässt sich die schwarz-rote Koalition von der AfD die Themen diktieren?

Nein. Die schlichte Realität diktiert die Politik. Wir sind im dritten Jahr in Folge in der Rezession, haben Hunderttausende Industriejobs verloren. Mit der irregulären Migration sind Städte und Gemeinden, die Schulen, der Wohnungsmarkt überfordert. Die Bedrohung durch Russland ist real. Das sind die Themen unserer Zeit. Und damit der Koalition.

"Was ich mir an schwulenfeindlichen Sprüchen und auch Drohungen gegen meine Person aus dieser Fraktion anhören muss, nimmt mir jede Illusion."

Jens Spahn über die AfD

Sie haben der "Bild" gesagt, mit der AfD müsse man umgehen wie mit anderen Oppositionsparteien. Ist die AfD für Sie eine Partei wie jede andere?

Das betraf Abläufe im Parlament. Und natürlich müssen wir als Regierung die parlamentarischen Rechte der Opposition respektieren. Ich mache mir aber keinerlei Illusion darüber, wessen Geistes Kind viele Abgeordnete der AfD sind. Zur AfD gehören Verschwörungstheoretiker, Hetzer, Extremisten. Ich habe das selbst als Minister erlebt und erlebe es bis heute. Was ich mir an schwulenfeindlichen Sprüchen und auch Drohungen gegen meine Person aus dieser Fraktion anhören muss, nimmt mir jede Illusion. Die AfD gibt sich gerne bürgerlich, aber in ihren Umgangsformen ist nichts Bürgerliches. Ich bin für eine harte Auseinandersetzung mit der AfD, in der Sache und auch im Wort.

Trotzdem fordern Sie eine "richtige Mischung" im Umgang mit der AfD. Wie soll die genau aussehen?

Die Frage ist, ob man den Extremisten den Gefallen tun sollte, auf jede ihrer Provokationen einzugehen. Ich denke, manch ritualisierte Empörung hilft nur den Falschen. Das nährt zudem ihren angeblichen Opfermythos. Mit Geschäftsordnungstricks kommen wir der AfD nicht bei. Deswegen sage ich: Wir brauchen eine sehr robuste Auseinandersetzung in der Sache und im Umgang. Wir sollten aber nicht über jedes kleine Erregungsstöckchen springen. Die Balance ist gar nicht so leicht.

Lassen sich AfD-Wähler von den anderen Parteien wirklich zurückgewinnen?

Nicht jeder. Aber viele schon. Am 23. Februar haben zehn Millionen Bürger die AfD gewählt. Nicht wenige von ihnen wollten uns damit etwas sagen. Und damit muss man klug umgehen. Wir müssen die Probleme lösen, die den Frust und damit die AfD groß machen: die illegale Migration, die schwache Wirtschaft, die mangelnde innere Sicherheit.

Ende Januar hat die Union zusammen mit der AfD im Bundestag die Hand gehoben. Wird das wieder vorkommen?

Wir bilden zusammen mit der SPD eine stabile Mehrheit im Deutschen Bundestag. Wir werden gemeinsam Gesetze einbringen und immer gemeinsam abstimmen. Die Abstimmungen Ende Januar waren ein Phänomen der Übergangszeit, in der die rot-grüne Regierung keine Mehrheit mehr im Bundestag hatte. Niemand kann von uns verlangen, dass wir gegen unseren eigenen Gesetzentwurf stimmen.

In der Union gab es schon vor der Vorstellung des Koalitionsvertrags ein Grummeln an der Basis. Haben Sie sich von der SPD über den Tisch ziehen lassen?

Wenn wir den Koalitionsvertrag nach solchen Kriterien bewerten würden, dann hätten wir tatsächlich den Keim des Streites schon gelegt. Wir sind uns darüber einig, was für das Land jetzt notwendig ist. Ich werde das Vereinbarte offensiv vertreten, jeden Teil davon. SPD-Chef Lars Klingbeil hat jüngst gesagt: Wer arbeiten kann, sollte arbeiten. Den Satz kann ich sofort unterschreiben, der steht sogar im CDU-Grundsatzprogramm.

Die geschäftsführende rot-grüne Bundesregierung will vor dem Regierungswechsel noch gefährdete Menschen aus Afghanistan mit Charterflügen ins Land holen. Wie bewerten Sie das?

Ich finde das grundfalsch und anmaßend. Die geschäftsführende Regierung hat nicht einmal eine Mehrheit im Parlament. In drei Wochen wird eine neue Regierung die Geschäfte übernehmen. In unserem Koalitionsvertrag steht ganz klar: Die Aufnahmeprogramme sollen enden. Wir wollen die Flugrichtung ändern. Wir wollen keine Flüge mehr aus Afghanistan nach Deutschland, sondern Straftäter und Gefährder zurück nach Afghanistan fliegen. Die Grünen sollten sich mehr denn je die Frage stellen, welchen Anteil sie eigentlich mit ihrer Politik und ihren Projekten an der Stärke der AfD haben.

Sowohl an der alten als auch an der neuen Bundesregierung ist aber die SPD beteiligt. Müssten Sie nicht von Ihrem künftigen Koalitionspartner verlangen, dass er diese Flüge stoppt, wenn Sie sie für grundfalsch halten?

Die Federführung bei dem Thema hat nun einmal das von Annalena Baerbock geführte Auswärtige Amt. Wir sind uns mit der SPD einig, dass diese Flüge gestoppt werden müssen.

"Was die US-Regierung gerade macht, ist ziemlich brutal."

Jens Spahn

Die nächste Bundesregierung startet unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, auch wegen der Zölle, die Donald Trump verhängt hat oder noch verhängen will. Sie pflegen Kontakte zu den Republikanern in den USA. Haben Sie mal nachgefragt, was da eigentlich los ist?

Klar, ich versuche zu verstehen, was in Washington passiert. Was die US-Regierung gerade macht, ist ziemlich brutal. Sie macht keinen Unterschied zwischen Partnern und Gegnern. Wenn die Zölle jetzt teilweise ausgesetzt sind, eröffnet das vielleicht eine Chance für Europa, die Sache umzudrehen und die transatlantischen Zölle auf null zu setzen.

Wie sollte die nächste Bundesregierung mit Donald Trump umgehen?

Wir sind abhängig von den USA. In unserer Sicherheit wollen wir uns unabhängiger machen, aber das wird viele Jahre in Anspruch nehmen. Wirtschaftlich sind wir mit den USA sehr stark verflochten. Ein Teil unseres Wohlstandes ist vom Handel mit den USA abhängig. Wir sitzen im Moment am kürzeren Hebel. Deswegen muss man klug mit der US-Regierung umgehen.

Was heißt das konkret?

Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen. Die Europäische Union könnte eine Digitalsteuer für US-Tech-Konzerne auf den Weg bringen, das täte weh. Deswegen ist es richtig, dass die EU sie zumindest androht. Gleichzeitig sollten wir nicht in die Eskalation gehen. Ich setze große Hoffnungen in die Kanzlerschaft von Friedrich Merz. Er hat die Chance, ein europäischer Anti-Trump zu werden. Er kann ein verlässlicher Partner für die Europäer und auch für andere Staaten in der Welt sein. Daraus entsteht Stärke, um mit den USA als Stimme Europas auf Augenhöhe in Verhandlungen zu treten.

Zur Person

  • Jens Spahn wurde 1980 in Ahaus im Münsterland nahe der niederländischen Grenze geboren.
  • Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Bankkaufmann und studierte danach Politikwissenschaft.
  • 2002 wurde er für die CDU erstmals in den Bundestag gewählt, wo er 2009 bis 2015 gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion war.
  • 2015 bis 2018 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und 2018 bis 2021 Bundesgesundheitsminister.
  • In der vergangenen Wahlperiode war Spahn als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Wirtschaftspolitik zuständig.