In 14 Jahren erlebte Großbritannien fünf konservative Premiers und jede Menge Skandale. Wenige Wochen vor den Wahlen liegt Labour mit 20 Prozentpunkten vorne. Wie konnten die Tories derart abstürzen?

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Brexit, Corona, Wirtschaftskrise und jede Menge Skandale haben die 14 Jahre konservativer Regierungen in Großbritannien geprägt. Vielen Briten geht es jetzt schlechter als 2010, noch mehr sind desillusioniert. Ein erneuter Sieg der Tories bei der Parlamentswahl am 4. Juli gilt als ausgeschlossen, die oppositionelle Labour-Partei geht als ausgemachter Gewinner ins Rennen.

Die Briten erlebten in den 14 Jahren fünf konservative Premiers, 2022 waren es drei binnen vier Monaten. Premierminister Nummer 5 und Tory-Chef Rishi Sunak scheint sich mit der erwarteten Niederlage bereits abgefunden zu haben. Derzeit hat Labour in den Umfragen einen Vorsprung von 20 Prozentpunkten, Oppositionsführer Keir Starmer ist das Amt des Premiers so gut wie sicher. Die Konservativen flehen die Wähler an, zumindest eine "Supermehrheit" der sozialdemokratischen Partei zu verhindern.

Die Konservativen haben ihre Glaubwürdigkeit verloren

Aber das Vertrauen der Bevölkerung ist verloren. Die Erosion der Glaubwürdigkeit habe nach der weltweiten Finanzkrise 2008 begonnen, sagt Tim Bale, Politikprofessor an der Queen Mary University in London. "Die Regierung trat 2010 an und versprach, dass es keine drastischen Kürzungen geben würde – um dann das Land mit einer Sparpolitik zu überziehen, die die öffentlichen Dienste langfristig schwächte", sagt Bale.

Das Referendum 2016, bei dem 52 Prozent für den Austritt aus der EU stimmten, bedeutet das Aus für Brexit-Gegner David Cameron, den ersten der fünf Tory-Premiers. Seiner Nachfolgerin Theresa May gelang es nicht, ihren mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Vertrag durchs Parlament zu bringen. Auch sie trat zurück.

Boris Johnson schafft es 2020, den Austritt zu vollziehen, stürzte dann jedoch über die Corona-Pandemie. Er unterschätzte anfangs deren Ausmaß, begann spät mit der Eindämmung und feierte während des Lockdowns Partys in Downing Street. Im Juli 2022 musste er sein Amt aufgeben.

Nachfolgerin Liz Truss wollte mit massiven schuldenfinanzierten Steuersenkungen die Konjunktur beleben und die hohe Inflation sowie die Energiekrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine bekämpfen. Die Märkte gerieten in Panik, das britische Pfund stürzte ab. Nach nur 49 Tagen im Amt löste Sunak Truss ab.

Unter Sunak kam es über Monate immer wieder zu Protesten. Pfleger, Lehrer, Briefträger und viele andere demonstrierten gegen die hohen Lebenshaltungskosten.

Wirtschaftlich geht es im Königreich bergab

Die jährliche Inflation ist inzwischen von 11 auf 2,3 Prozent gesunken, doch die Löhne und Gehälter verharren auf dem Niveau von 2010. Wachstum und Produktivität stagnieren, und die Steuerlast ist so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr.

Eine große Sorge für die alternde Bevölkerung ist der Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS. Es fehlt an Geld und Personal, selbst Krebspatienten müssen lange auf eine Behandlung warten. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich vergrößert. In nur wenigen anderen europäischen Ländern und G7-Industriestaaten ist die Ungleichheit laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) so groß wie im Vereinigten Königreich.

"Die Konservativen sind völlig gescheitert, ihre Versprechen einzuhalten", urteilt Politologe Bale. Johnson habe zudem die Integrität der Konservativen ruiniert, Truss den Ruf der Tories in Bezug auf wirtschaftliche Kompetenz. "Das führte zu dem desaströsen Zustand, in dem sich die konservative Partei befindet", sagt Bale.

Zwei Wochen vor der Wahl herrscht Pessimismus auf der Insel. Die Briten sehnen sich nach Veränderungen, zweifeln aber laut einer Umfrage von Ipsos mehr denn je an ihrer politischen Führung. 37 Prozent rechnen damit, dass sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtern wird und nur 20 Prozent sind überzeugt, dass das Land auf dem richtigen Weg ist. 53 Prozent der Befragten glauben, dass der Brexit Großbritannien geschadet hat. Die beiden großen Parteien meiden das Thema dennoch.

Labour erbt eine schwierige Situation

Nicht alles laufe schlecht, versucht Sunak die Wähler zu beruhigen. Er verweist auf die niedrige Arbeitslosigkeit, den Rückgang der Kriminalität und das gute Abschneiden der britischen Schüler bei der Pisa-Studie. Andere loben die 2014 eingeführte Ehe für alle und die Vorreiterrolle Großbritanniens bei Offshore-Windkraftanlagen.

Die Labour-Partei profitiert von der düsteren Bilanz der Tory-Herrschaft. Doch die Realität könnte die Sozialdemokraten bald hart treffen, warnt Politikwissenschaftler Anand Menon vom King's College in London: "Keir Starmer erbt eine sehr schwierige finanzielle und wirtschaftliche Situation.“ (afp/jos)

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