- Keine Jobs und Aufträge seit einem Jahr – viele Betroffene müssen Hartz IV beantragen, sind in Kurzarbeit oder brauchen ihre angesparte Altersvorsorge auf.
- Existenzangst breitet sich aus, weil auch 2021 schon als abgeschrieben gilt.
- Die Branche sieht eine Chance in auf Tests basierenden Veranstaltungskonzepten und hofft auf mutige, politische Maßnahmen.
Nichts geht mehr – dieser Spruch aus dem Roulette beschreibt den Zustand der Konzert- und Veranstaltungsbranche momentan sehr gut. Seit rund einem Jahr dürfen Künstler nicht wie gewohnt live vor Publikum auftreten. Ob, wann und wie es wieder losgeht? Das ist bisher vollkommen unklar und gleicht tatsächlich einem Glücksspiel – nur ohne Ausblick auf Gewinn.
Viele der Betroffenen sehen sich mit Planungsunsicherheiten unbekannten Ausmaßes konfrontiert – auch aufgrund von fehlenden politischen Lösungen. Wie geht es den betroffenen Menschen der Konzert- und Veranstaltungsbranche derzeit? Sind sie trotz allem zuversichtlich oder verlässt sie der Mut? Welche Perspektiven gibt es noch politisch? Und wie kann ein Restart gelingen?
Keine Jobs, keine Aufträge: Indirektes Berufsverbot hat massive Folgen
"Normalerweise war ich im Jahr an bis zu 36 Wochenenden ausgebucht", erzählt der Veranstaltungstechniker und DJ Andreas Wellhöfer im Gespräch mit unserer Redaktion. Oft hat er bei Auftritten von Komikern wie
Wie Wellhöfer geht es derzeit fast jedem aus der Kultur- und Veranstaltungsszene. Kulturschaffende dürfen seit mehr als einem Jahr nicht ihren Berufen nachgehen, viele sind in Kurzarbeit, haben Arbeitslosengeld II oder staatliche Hilfen beantragt.
Betroffen sind unterschiedlichste Berufsgruppen wie selbstständige Künstler, Tourneemanager, Veranstaltungstechniker, private Betreiber von Konzertagenturen, Clubs, private Festivalorganisatoren, gemeinnützige Veranstalter, aber auch Angestellte in staatlich finanzierten Einrichtungen wie Theatern, Kulturhäusern und Ähnlichem.
Die Liste der Berufsbeispiele ließe sich lange fortführen, denn die Branche ist besonders kleinteilig, eng in alle Richtungen miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Erhard Grundl, Sprecher für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen warnt davor, diese Vernetzung zu unterschätzen: "Man muss sich über den Dominoeffekt in der Veranstaltungsbranche im Klaren sein. Da geht es nicht nur um eine Berufsgruppe, sondern das ganze Umfeld und die angehängten Gewerke wie Make-up-Artists und Tontechniker."
Die an sich krisenerprobte Branche erlebt ein Dilemma unbekannten Ausmaßes. "Weil unser Geschäft oft saisonbedingt ist, sind wir es gewohnt, uns ein Polster anzulegen und für Eventualitäten und das Alter zu sparen. Aber mit so einer Eventualität, einem kompletten Berufsverbot über einen Zeitraum von weit mehr als einem Jahr, damit hat niemand gerechnet", erklärt eine selbstständige Tourmanagerin aus Nordrhein-Westfalen, die aus Diskretionsgründen nicht namentlich genannt werden möchte.
Corona-Pandemie: Kulturelle Vielfalt und Meinungsvielfalt ist bedroht – geistige Armut droht
Die Folgen sind fatal: Nach Einschätzung von Experten wird sich die Konzert- und Veranstaltungsbranche durch das Berufsverbot massiv strukturell verändern. "Ich sehe, wie vieles nach und nach wegfällt. Das alles ist sehr einschneidend für uns. Einiges wird es langfristig nicht mehr geben. Kleine Akteure werden zum Beispiel von größeren geschluckt", erzählt Maria Paz Caraccioli Gutierrez von der Initiative "Ohne Kunst & Kultur wird’s still".
Auch sie hat durch die Pandemie ihren Job als angestellte Musik- und Kulturmanagerin in Lübeck verloren und will mit ihrer Initiative nun ein Zeichen für Kunst und Kultur setzen. Im Rahmen ihrer bundesweiten Plakat-Kampagne lichtet sie Betroffene ab, um der Branche ein Gesicht zu geben und deren persönliche Geschichten zu erzählen.
Erhard Grundl beobachtet eine regelrechte Abwanderung von Kulturschaffenden: "Der Talentschwund ist schon sichtbar, viele verabschieden sich, suchen sich andere Tätigkeitsfelder. Das betrifft insbesondere geringfügig Beschäftigte und Soloselbstständige. Die wieder zurückzuholen, das wird schwer."
Maria Paz Caraccioli Gutierrez macht das große Sorgen: "Diesem Land droht geistige Armut, wenn die vielen kleinen Beteiligten wegfallen, die das kulturelle Leben mitgestalten und die ihre Meinungen äußern." Die gebürtige Chilenin schätzt, dass jeder Dritte oder Vierte am Ende davon betroffen sein wird. "Das schadet der Demokratie", sagt sie nachdenklich.
Nachwuchssorgen: Die Hemmschwelle ist größer geworden
Tatsächlich befürchten Branchenkenner, dass die aktuelle Krise sich enorm auf den Künstlernachwuchs auswirken wird. "Die Hemmschwelle, sich für die Kulturszene zu entscheiden, ist viel größer geworden", stellt die Tourmanagerin aus Nordrhein-Westfalen fest. Die Kulturszene muss offenbar um ihre Attraktivität bangen.
Doch noch halten ihr viele die Treue wie die junge Band "Frau Winzig" aus Köln. Das Team rund um Mascha Winkels hatte sich um die Jahreswende 2019/2020 entschlossen, sich als Band professionell selbstständig zu machen. In ein neues Tonstudio und teures Equipment wurde investiert, ein Plattenvertrag mit einem großen Label aus Berlin lag zur Unterschrift bereit.
Doch der großen Euphorie folgte ein harter Aufprall zu Beginn der Pandemie: Der Deal platzte, Existenzangst ist seitdem an der Tagesordnung. Zwar hat die junge Band mittlerweile eine staatliche Hilfe für die Miete ihres Tonstudios erhalten, doch Lebenshaltungskosten können sie nur mit Hilfe von Spenden decken.
"Diese Existenzangst stresst unheimlich. Dennoch halten wir die Füße still und sind noch mehr im Studio als früher, um Songs zu produzieren und um uns für die Zeit danach vorzubereiten", berichtet die Frontfrau. "Das, was wir sind, sind wir nicht mehr, und was wir sein werden, wissen wir noch nicht."
Aufgeben ist für die Band keine Option: "Wir haben uns dafür entschieden und das ist eine Lebenseinstellung. Da kannst du nicht einfach mit aufhören", erklärt Schlagzeuger Merlin Zambra, der vor kurzem Vater wurde.
Veranstaltungsbranche war sechstgrößter Wirtschaftsbereich
Noch vor einem Jahr war es nicht schlecht um die Attraktivität der Veranstaltungsbranche bestellt. Gemessen am Umsatz belegte sie immerhin den sechsten Platz im Branchen-Ranking, noch vor der Metallerzeugung und -verarbeitung und dem Baugewerbe. Pro Jahr erwirtschafteten rund 1,5 Millionen Beschäftigte rund 129 Milliarden Euro. Davon entfiel der Großteil auf Messen und andere geschäftliche Events, ein kleinerer Teil von sieben Milliarden Euro auf Kulturveranstaltungen.
Doch trotz ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Relevanz fühlt sich die Branche von der Regierung ungerecht behandelt. Sie organisiert deshalb aufmerksamkeitsstarke Imagekampagnen wie "Ohne Kunst & Kultur wird’s still" oder "Kulturgesichter NRW", um der Vielseitigkeit der Betroffenen mehr Gesicht zu geben und über die Folgen des indirekten Berufsverbotes aufzuklären.
Auch politische Initiativen, allen voran der Verein #AlarmstufeRot, haben sich gegründet, um den Druck auf die Politik zu erhöhen und ihren Forderungen mit einer starken, gemeinsamen Stimme Ausdruck zu verleihen.
Kultur hat wenig Wert und genießt geringe Anerkennung
Was vielen in der Szene besonders unangenehm aufstößt, ist der gedankenlose Umgang der Politik mit der Kultur. Die Tourmanagerin aus Nordrhein-Westfalen, die anonym bleiben möchte, fasst es so zusammen: "Das Ganze wird auf dem Rücken der Kulturschaffenden ausgetragen. Wenn Kultur so wenig Wert hat, dann ist das ein Armutszeugnis für Deutschland."
Mascha Winkels alias "Frau Winzig" vermutet, dass der fahrlässige Umgang der Politik auch darin begründet ist, dass es vielen oft auch an einem Verständnis für kreative Berufe fehlt. "Das, was wir machen, wird von vielen nicht als anerkannter Beruf angesehen. Obwohl wir alle jeden Tag sehr hart dafür arbeiten. Viele verstehen den Wert nicht, Kultur ist zu alltäglich und es gibt sie im Überfluss."
Bieten digitale Lösungen eine neue Perspektive für die Kulturbranche?
In der Not und sich selbst überlassen experimentierte die Kultur- und Veranstaltungsszene in den letzten zwölf Monaten intensiv mit digitalen Streams. Konzerte wurden online über Social-Media-Plattformen übertragen, um mit den Zuschauern in Verbindung zu bleiben.
Das Problem: Da Streams in der Regel kostenlos angeboten werden, können Produktionskosten für derartige Konzerte nicht gedeckt werden. Darüber hinaus schafft es diese Form der digitalen Events noch nicht, den Live-Charakter und das gemeinsame Erlebnis, das Gefühl der Integration nachzubilden.
Einen spannenden Versuch dazu startete im Dezember 2020
Er erschien stattdessen als dreidimensionales Hologramm, das vom französischen Grenoble live in das Kölner Studio projiziert wurde. Das dort sitzende Orchester begleitete ihn live. Möglich wurde das mittels einer Technik, die normalerweise für Videospiele verwendet wird. Künstler könnten so theoretisch von überall aus auftreten.
Was für Perspektiven kann die Politik jetzt noch liefern?
Egal, wen man in der Kulturszene fragt: bemängelt wird durchweg die fehlende Planungssicherheit seitens der Politik. Mascha Winkels bringt es auf den Punkt: "Alles ist so inkonsequent, wir können nicht planen und auf politische Hilfe zu hoffen, ist utopisch!"
In der Tat läuft vieles nicht reibungslos – vor allem nicht die suboptimale Gestaltung rund um die Beantragung der staatlichen Hilfen. Die Kritik: Vieles ist im Detail nicht auf die freie Szene abgestimmt, zahlreiche Akteure fallen durch das Raster und erhalten keine staatliche Unterstützung.
Erhard Grundl hat dafür kein Verständnis: "Die Regierung hat keine Lehren aus den letzten zwölf Monaten gezogen, vieles ist zu bürokratisch, schließt zu viele aus. Da fehlt es an einer pragmatischen Herangehensweise. Am Ende musst du doch die Leute sehen und wertschätzen, vor allem darum geht es. Die Regierung muss endlich verstehen, was da auf dem Spiel steht. Die Politik ist das den Leuten schuldig, die haben doch auch Steuern bezahlt."
Viele konstruktive Vorschläge für den Neustart erarbeitet
An konstruktiven politischen Vorschlägen mangelt es indes nicht. Im Oktober 2020 legten etwa Bündnis 90/Die Grünen einen detaillierten 10-Punkte-Plan zur Rettung der Veranstaltungswirtschaft vor. Darin enthalten sind Ideen wie die Einführung eines Überbrückungsprogrammes, regelmäßige Gesprächsrunden zwischen Branchenvertretern und Parlament und die Etablierung eines Existenzgeldes von rund 1.200 Euro für Soloselbstständige, wie es auch die von ver.di unterstützte Kulturinitiative 21 fordert.
Auch ein Schutzschirm für den Neustart wurde bereits im Oktober von der Partei Die Grünen angeregt, um Kosten für ausgefallene Veranstaltungen zu ersetzen. Im Dezember 2020 kündigte Bundesfinanzminister
Diese sollen Veranstaltern von Events einen Ersatz ihres Umsatzes garantieren, falls ihre für die zweite Jahreshälfte geplanten Veranstaltungen aufgrund unvorhersehbarer Umstände wieder abgesagt werden müssten. Ferner arbeitet Olaf Scholz an einem Förderprogramm, das Kulturveranstaltungen finanziell unterstützen soll, die wegen der Corona-Restriktionen zu hohe Kosten haben und nicht rentabel arbeiten können.
"Bisher hat Herr Scholz da gute Ideen angekündigt, aber passiert ist leider noch nichts. Wir haben deshalb mehrmals bei der Bundesregierung den aktuellen Stand nachgefragt. Leider liegt noch immer kein Konzept für die von Scholz angekündigten Sonderfonds vor", sagt Grundl.
Ist das Jahr 2021 noch zu retten?
Für einen Restart in diesem Sommer, so schätzen Experten, ist es bereits jetzt zu spät. Denn Konzerte und andere Veranstaltungen benötigen einen gewissen Planungsvorlauf, um durchgeführt werden zu können. Viele Künstler und Veranstalter haben deshalb das Jahr bereits abgeschrieben, obwohl einige noch auf den Schutzschirm und das Förderprogramm von Scholz hoffen.
Die langjährige Tourmanagerin aus Nordrhein-Westfalen appelliert deshalb eindringlich an die Politik: "Veranstalter müssen wieder finanzielle Sicherheiten bekommen, damit sie kostendeckend arbeiten können. Außerdem gibt es genügend Hygienekonzepte, genügend Forschungsergebnisse zur Verbreitung von Aerosolen – die Regierung muss nun mutig sein und geregelte Events wieder erlauben."
Für Grundl liegt der Schlüssel deshalb insbesondere in staatlichen Aufstockungshilfen für Veranstalter, die Zusatzkosten, die durch pandemische Auflagen entstehen, ausgleichen. Für ihn muss es jetzt ein paar entscheidende Veränderungen geben, damit die Kulturszene nicht noch mehr aufs Spiel gesetzt wird.
"Man muss am Ende einfach versuchen, dass die Leute ihre Würde behalten. Menschen müssen wieder in Lohn und Brot kommen," mahnt Maria Paz Caraccioli Gutierrez.
Verwendete Quellen:
- gruene.de: 10 Punkte-Plan zur Rettung der Veranstaltungswirtschaft
- tagesschau.de: Scholz plant "Schutzschirm" für Veranstalter
- kuk.verdi.de: Kulturinitiative 21: Monatlich 1180 Euro Coronahilfe jetzt!
- backstagepro.de: Neue Studie zeigt die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Veranstaltungsbranche
- promedianews.de: Die Gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Veranstaltungsbranche
- eventnet.de: Musikveranstaltungen als Livestream – funktioniert das
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