Wir leben in wilden Zeiten. In schwierigen Zeiten. Spätestens seit dem 24. Februar auch in Zeiten, die Angst machen. Gut, immerhin leben wir nicht in Syrien, Myanmar, Libyen, im Kongo oder im Südsudan, weswegen unsere Häuser noch nicht in Schutt und Asche liegen – der moralische Kompass von Teilen der selbsternannten intellektuellen Kulturszene allerdings schon.
Und weil es wärmer und sicherer in einer 250qm-Wohnung im Prenzlauer Berg ist ("Hey, hier um die Ecke wohnt der Brühl") als beispielsweise in einem Keller in Kiew bei Bombenalarm, haben diese Vorreiter der friedliebenden Gemütlichkeitsethik auch die Muße und – wenn man so möchte – die Chuzpe, um den heldenhaft um ihre (und im Prinzip auch unsere) Freiheit, ihr Land, ihre Familie, ihre Heimat, ihren Besitz und letztendlich ihr Leben kämpfenden Ukrainern und Ukrainerinnen zu erklären, dass sie sich endlich mal fragen sollten, wie viele Menschen ihretwegen denn noch sterben müssen, bevor sie sich endlich kompromissbereit zeigen und sich ergeben.
Ja, es ist ziemlich deutsch geworden in Kaltland. Und medial ziemlich einsam um die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen eines offenen Briefes im außenpolitischen Fachmagazin "EMMA", in dem eine 28-köpfige, relativ inhomogen zusammengewürfelte Truppe selbstverliebter Verteidigungsexperten ihr Hauptbetätigungsfeld für einen kurzen Ausflug in die Kriegsanalyse verlassen und das Einstellen aller Waffenlieferungen an die Ukraine fordern. Damit will man, Sie werden es ahnen, "vor einem dritten Weltkrieg warnen".
Diese weitestgehend substanzlos begründete, naja, Warnung ergießt sich in einem bemerkenswert uninspiriert formulierten Aufruf, bitte keine Waffen in die Ukraine zu schicken. Diese Friedenstauben der Realitätsentrückung wissen zwar, dass diese Waffen praktisch stündlich dringender gebraucht werden, um Menschenleben zu retten und dass
Und Warum? Nur für den Kick für den Augenblick?
Was treibt die Unterzeichner, darunter Alexander Kluge, Svenja Flaßpöhler, Martin Walser,
Man könnte trefflich darüber scherzen, ob
Aber mal der Reihe nach: Wir leben in einem Land, in dem die Herausgeberin eines ehemals feministisch angehauchten Magazins nicht nur darüber entscheiden möchte, wer in Deutschland zur Kultur-Elite gezählt und als Intellektueller gesehen werden muss, sondern auch in einem Land, in dem diese Elitetruppe der selbstreflektierenden Diaspora Kriegslieferungen kommentiert, als gäbe es nur sie, dann Deutschland und dann noch den auf sich allein gestellten Rest der Welt.
Das natürlich für Tsunamis der Entrüstung, gegen die der um Läuterung bemühte Xavier Naidoo ein Sturm im sehr kleinen Wasserglas ist. Die Bestseller-Autorin Franca Parianen etwa schreibt auf Twitter: "
Wladimir Putin: "Ukraine hat kein Existenzrecht"
Wolodymyr Selenskyj: "Wir würden gern existieren"
Kapitulation oder Atomkrieg
Der offene Brief, so fair muss man sein, fährt natürlich auch Applaus ein. Insbesondere Diskursakademiker, die sonst nur noch
Schlimmer als die unterkomplexe Skizzierung einer Horror-Vision, in der Putins einzige logische Antwort auf deutsche Panzerlieferungen zur Verteidigung der ukrainischen Bevölkerung ein nuklearer Erstschlag wäre, sind eigentlich nur die liberalhysterischen Möchtegern-Meinungsmultiplikatoren mit ihrer grenzgenialen Aura der totalen Weisheit. Deren Haltung: man darf kritisieren (danke, wie nett), aber nicht schimpfen. Die Reaktionen auf den offenen Brief fielen in der ersten ungläubigen Phase des zweifelnden Entsetzens zuweilen etwas harsch aus. Umgehend versammelt sich der Niveau-Club für sprachfundamentale Überlegenheit und appelliert, man dürfe Meinungen ja schon durchaus falsch finden, aber man sollte da jetzt niemanden verhöhnen.
So eine als Dokumentation ihrer humanistischen Unfehlbarkeit geplante Selbstentlarvung entspringt zumeist den Spontanergüssen ausgerechnet der Kohorte von Dauerkommunikatoren, die in Tweets, Texten, Podcasts und TV-Auftritten ihre grenzgeniale Eloquenzwucht regelmäßig auf Kandidaten wie Wendler, Scheuer, Laschet oder Schweiger niederprasseln lassen. Einige Promis sind wohl vom Twitter-Komitee für anständige Kommunikation zum Gehässigkeits-Abschuss freigegeben.
Andere, wie die EMMA-Edelfedern, offenbar nicht. Vielleicht, weil man Lars Eidinger mal im Grill Royal im Champagnerrausch über drei Tische und zwölf Kobesteaks hinweg euphorisch zugeprostet hat oder mit Juli Zeh demnächst bei den Fernsehmachern in Altona gemeinsam am Duplo-Buffet naschen wird, bevor man professionell und kollegial gemeinsam einen großen "Darüber wird zu reden sein"-Auftritt bei
Alice Schwarzer Peter
Initiatorin Schwarzer hatte bereits vor ihrer Berufung als außenpolitische Sprecherin der Kompromiss-Bourgeoise eine imposante Karriere hingelegt. Als Vorzeige-Feministin für feuilletonmüde Religionslehrerinnen avancierte sie 2010 zu Deutschlands bekanntester Richterin. In geistiger Abwesenheit der Unschuldsvermutung erläuterte sie der Nation in monatelangen Begleitschreiben zu seinem Prozess, warum Jörg Kachelmann der schlimmste Mann der Welt und jedenfalls mindestens lebenslang einzukerkern sei. Auf offene Briefe hatte sie damals verzichtet. Warum auch? Das Fachblatt für den aufopferungsvollen Kampf gegen Vorverurteilungen, die BILD, hatte ihr damals monatelang die Titelseiten leergeräumt.
Leider hatte Schwarzers wackerer Feldzug mit Boulevardsumpfhintergrund einen winzigen Schönheitsfehler: Das Landgericht Mannheim hatte sich nur unzureichend mit der anerkannten Rechtsprechungs-Koryphäe Schwarzer abgestimmt und Jörg Kachelmann voll umfänglich freigesprochen. Für mich bis heute unverständlich, dass die Richter der Vorverurteilung durch Rechtswissenschaftlerin Alice Schwarzer nicht folgten. Denn wenn sich jemand mit Strafrecht auskennt, dann Alice Schwarzer. Gut, mit Steuerrecht nicht ganz so sehr, aber das ist eine andere Geschichte.
Offene Briefe, offene Fragen
Kurz vor ihrem Ausflug als Lokführerin in den Sackbahnhof der kriegsverbrecherischen Kompromissbereitschaft hatte Alice Schwarzer bereits die Herzen der aufgeklärten LGBTQ Community gewonnen, als sie mit dem Hot-Take "Trans ist jetzt Mode" feministisch erläuterte, wie sexuelle Identifikation heute quasi etwas zum Anziehen geworden ist. Morgens mies gelaunt aufgewacht, schnappt man sich das Jungenkostüm. Hat man mal gute Laune, will man vielleicht lieber Prinzessin sein. Ähnlich wissenschaftlich fundiert kommt nun auch ihr offener Brief an Olaf Scholz daher.
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Es bleibt ein ungelöstes Rätsel, wie man auf die Idee kommen kann, bei dieser bunt zusammengewürfelten Truppe potenzieller Friedensnobelpreisträger auf außenpolitischer Klassenfahrt von "intellektuell" zu sprechen. Aber vielleicht ist für den durchschnittlichen EMMA-Leser (und die Leserinnen) alles intellektuell, was sich bei einem IQ-Test oberhalb von Chris Töpperwien und Prinz Markus von Anhalt einreiht. In diesem Sinne wünsche ich eine gute Woche mit weniger offenen Briefen, auf dass sich schon kommende Woche niemand mehr über Juli Zeh lustig machen muss. Das wäre ein Segen für alle Beteiligten.
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