Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Sagt jedenfalls ein Sprichwort, wenn ich das richtig erinnere. Ich bin allerdings nicht sicher, ob das tatsächlich zutrifft. Zuletzt bekam man eher den Eindruck, dass die, die die Zeitung von gestern gemacht haben, sogar noch deutlich älter sind. Zumindest was ihre Weltanschauung angeht, ihre journalistischen Methoden und vor allem ihr Erinnerungsvermögen. Andererseits: das trifft wohl auch für viele Politiker zu.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Bleiben wir aber zunächst mal bei den Medienhäusern und ihren Protagonisten, für die das Zündeln an den Benzinfässern der gesellschaftlichen Spaltung inzwischen unverhohlen zum Geschäftsmodell gehört. Das erste Opfer des Krieges, um ein weiteres Sprichwort zu bemühen, ist die Wahrheit. Das gilt auch für den deutschen Medienkosmos, der unbestreitbar in jüngster Vergangenheit zu einem Kriegsschauplatz der Auflagen und Agenden geworden ist. Ein Krieg, der unbedingt zu gewinnen ist. Egal was es kostet. Und dann kostet es. Vor allem Moral, Ethik, Freiheit, Integrität und letztendlich natürlich: die Wahrheit.

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Obwohl – ein kleines Detail dieser Feststellung muss ich korrigieren. Es geht nicht mehr um Auflagen. Die Verlage, die mit ihren Printerzeugnissen einstmals die unangefochtene Herrschaft über die Zeitungskioske hatten, zählen ihren, naja, Erfolg schon lange nicht mehr in verkauften Exemplaren. Das wäre, wie den Countdown seiner eigenen Selbstzerstörung großflächig als PR-Geniestreich zu preisen. Insbesondere dort, wo das ehrenwerte Handwerk des Journalismus bereits entweiht und von "Fakten zusammentragen, sie sich bestätigen lassen, analysieren und aufbereiten" umgekehrt wurde in "Fakten erfinden, Legitimierungen kreieren, Tatsachen umdeuten, passend machen und in eine Agenda pressen".

Einige deutsche Chefredakteure sind in den letzten Monaten zu Kurz gekommen

Ein Beispiel von diesem Wochenende. In Österreich tritt Kanzler Sebastian Kurz zurück. Erschüttert von unvorstellbaren Anschuldigungen. Sein Kanzleramt zerfleddert von Razzien, seine politische Vita überzogen mit staatsanwaltlichen Ermittlungen. Betrug, an Mafiamethoden erinnernde Steuerverschwendung, Bestechung, Untreue, Falschaussagen, gekaufte positive Medienberichterstattung, manipulierte Jubel-Umfrageergebnisse – die Liste ist lang, die letztendlich dazu geführt hat, dass Kurz vom Kanzleramt auf den Fraktionsvorsitz wechselt. Vom Kanzler zum Kanzler-Puppenspieler sagen viele. Außer die konservativen deutschen Medienhäuser, die sich seit Monaten einen jungen, starken, kompromisslosen Hardliner wie Kurz auch für Deutschland wünschen.

Dort bedauert man den zwar, naja, jetzt wohl wirklich nicht mehr unumgänglichen Rücktritt, aber auch, dass seine Demission ein "schwerer Schlag für die sowieso angeschlagenen bürgerlichen Kräfte in Europa" sei und Kurz "einer der wenigen visionären Regierungschefs" sei. Genau die Zeitungen also, die beispielsweise Annalena Baerbock monatelang für geschönte Lebensläufe und wenig Sorgfalt bei der Quellennennung ihres Buches als politisch vollkommen disqualifizierte Schwerverbrecherin deklariert hatten.

Ja, Sie lesen richtig. Würde ich diesen Plot Netflix als Serien-Exposé vorstellen, ich bekäme eine süffisante Absage: Das ist nun wirklich so absurd, das nimmt uns niemand ernsthaft ab. Während also selbst hochrangige streng konservative Politiker, wie etwa der Bundesvorsitzende der Jungen Union, Tilman Cuban, schlau genug sind, ihre eigenen Jubelarien zu Sebastian Kurz einfach totzuschweigen und zu hoffen, es wüchse möglichst bald Gras darüber, werten besagte Medienhäuser den unfreiwilligen Abgang ihres politischen Posterboys als persönliche Beleidigung des woken, linksgrünversifften Schicksals.

Hunde, die bellen, beißen nicht – das gilt auch für Erzählungen von Freiheit

Und das ist nicht die einzige Zumutung, die man dieser Tage dort zu ertragen hat. Ist ihnen auch aufgefallen, dass das Jahr 2021 für konservative Medienhäuser das bislang katastrophalste ihrer Historie war? Jedenfalls, wenn man das eigene Selbstverständnis, das Echolot des Volkes zu sein, mal abgleicht mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und den politischen Ergebnissen. In den vergangenen Jahrzehnten war man bei der Umsetzung großer Veränderungen (geschweige denn der Eroberung des Kanzleramtes) ohne das Wohlwollen bestimmter Zeitungen und Verlage chancenlos.

Eine Corona-Pandemie, die Eskalation der Klimakrise und eine desaströse intellektuelle Bilanz später muss man attestieren: Dieses Bild hat sich in Rekordzeit nicht nur verändert, sondern diametral entwickelt. Heute scheint es beinahe so, als könne man seine Pläne spätestens in dem Moment final ad acta legen, wenn genau diese Verlage und Zeitungen sich auf deine Seite schlagen. Das klingt im ersten Moment etwas verwegen, aber wenn man genauer hinschaut: Ist es nicht so, dass die konservativen Medien-Lager bei jeder ihrer politischen Kreuzzüge in diesem Jahr das denkbar katastrophalste Ergebnis erzeugt haben?

Man wollte Merz als Kanzlerkandidaten, als CDU-Vorsitzenden und als Merkel-Deinstallierer. Krachend gescheitert. Dann wollte man Söder als Kanzlerkandidaten. Krachend gescheitert. Dann wollte man Olaf Scholz vernichten. Krachend gescheitert. Dann wollte man das für die eigene verbliebene Klientel theoretisch kleinste Übel, Armin Laschet, zum Kanzler machen. Krachend gescheitert. Dann wollte man um jeden Preis eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP verhindern und eine Jamaika-Koalition aus Laschet, Habeck und Lindner installieren. Krachend gescheitert. Aus lauter Euphorie über diese Erfolgsserie wollte man zur Krönung sogar eigene TV-Sender etablieren. Und also, was soll ich sagen: krachend gescheitert.

Desinformationskrieg gegen die Wahrheit

Während also die Werkzeuge der Boulevard-Manipulateure stumpf geworden sind und sich der traurige Klangteppich des Abgesangs immer hörbarer über die Berlin-Mitte-Medien-Bubble legt, hoffen viele Leidtragende der ehemaligen Giganten der Meinungsmache, dass im brandgefährlichen politischen Rechtsruck-Trauma besagter Medien nicht irgendjemand die Zeichen der Zeit erkennt und die Resultate des eigenen intellektuellen Komplettabsturzes zu einer Waffe umbaut.

Stellen Sie sich mal vor, man würde auf den Titelseiten und Handy-Alarm-Tankstellen dieser Publikationen plötzlich Dinge fordern wie "Scholz muss Kanzler werden!" oder "Die Ampel wird uns in eine goldene Zukunft führen". Das wäre ein raffinierter, strategisch ausgeklügelter und beinahe brillanter Schachzug. Empirisch betrachtet muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass anschließend genau das Gegenteil eintreten würde. Umgekehrte psychologische Zeitungskriegsführung.

Noch ist man in den Think Tanks zwischen Paternoster und Borchardt erstaunlicherweise noch nicht auf die Idee gekommen, den Tsunami der Grenzüberschreitungen, der zum schwersten Bedeutungsverlust der eigenen Marke in der Geschichte deutscher Medien geführt hat, in einem Geniestreich der Effektumkehr als Munition gegen das Ungeliebte einzusetzen.

In einer taktisch bemerkenswert trumpesken Reaktionspanik flüchten sie sich stattdessen lieber in die Stevebannonisierung ihrer Kernthemen. Allerdings: Wie Bannons Desinformationskrieg ausgegangen ist, weiß man ja. Wobei nicht auszuschließen ist, dass man sich hoch oben zwischen den pseudoliberalen Egoismus-Brandmauern der Verlagshäuser auch in dieser Frage wieder für cleverer als den Rest der Gesellschaft hält.

Vielleicht ist man dort einfach fest davon überzeugt, auf dem Schlachtfeld der unterkomplex aufbereiteten und haltungstendenziös präsentierten Manipulations-Manövern wenigstens ausreichend bildungsferne Klientel, Rassisten, Corona-Kritiker, Querdenker, ewig Gestrige, Möchtegern-Millionäre, Grünen-Hasser und Klimawandel-Leugner an sich binden zu können, um zumindest den eigenen Job zu sichern. Und so reiten sie dann los in den blindwütigen Feldzug gegen alles, was dem eigenen Freiheitsbild von purem Egoismus, selbstregelnden Märkten und der Hoffnung auf einen Sechser mit Zusatzzahl im Innovations-Lotto gegen den Klimawandel widerspricht.

Herdenimmunität – aber gegen Fakten

Diese Entwicklung ist nur unschwer zu übersehen. Man erkennt sie beispielsweise an den Kollateralschäden, die diese antagonistische Okkupation der Jauchegruben unserer Gesellschaft mit sich bringt: Die mit unverwüstlicher Manie vorgetragenen Fan-Gesänge in den Kommentarspalten. Da spielen sie virtuos mit dem Hang ihres Diskurs-Kanonenfutters zum Abkanzelungs-Fetischismus.

Was sich mittlerweile an Antwortbeiträgen unter Texten besagter Tugendwächter des "Weiter so!" tummelt, ist eine bemitleidenswerte Melange aus abenteuerlicher Faktenignoranz, unverhohlener Aggression, offener Hetze und schmerzhaftem Jubel-Reflex, sobald es gegen Links, SPD, Grün, Luisa Neubauer, Greta Thunberg, Tempolimit, Veganer, soziale Gerechtigkeit, Seenotrettung, die Abschaffung der Massentierhaltung oder andere Buzzwords der Empörungs-Armada geht.

Als Krönung zumeist einhergehend mit einem nur unter Schmerzen zu ertragenden orthographischen Offenbarungseid und einer pathologischen Liebe für gesinnungsgesteuerte Märchen. Wie hieß es früher immer so schön: "Die Mutter der Dummheit ist immer schwanger". Einstweilen muss man wohl ergänzen: "Die Troll-Accounts der rechten Fake-News-Claqueure haben nie Urlaub". Eine der wenigen Disziplinen, in denen Deutschland nach Jahrzehnten des meinungsmanipulatorischen Wirkens dieser Medienhäuser überhaupt noch an der Spitze ist. Ein Fest der Unanständigkeit, wohlwollend der Reichweiten-Strategie dieser Medienhäuser in die Karten spielend.

Auf den Gedanken, dass diese Strategie der totalen Enthemmung mit einer ebenso schallenden Ohrfeige enden könnte, wie ihre "Verhindert Scholz" oder "Lasst es Söder machen" Kampagnen, kommt man offensichtlich nicht. In jenen Chefredaktionen operiert man inzwischen als würde man in seinem Porsche mit Tempo 240 auf die Chinesische Mauer zurasen und fest darauf vertrauen, es gäbe eigentlich gar keine Mauer, wenn man nur oft genug auf seinen Titelseiten behauptet, die Chinesische Mauer sei im Prinzip nur ein Denkfehler des verfeindeten politischen Lagers und würde sich noch rechtzeitig in Luft auflösen, bevor es zum Crash käme.

Da die Wirkungsmacht der faktenresistenten Kampagnen-Journalisten allerdings – wie oben erläutert – auf einer Skala von 1 bis 10 inzwischen bei Minus 2 angelangt ist, spürt man in der wirklichen, nicht ideologisch durchseuchten Welt, davon wenig. Dort weiß man: Der Crash wird kommen. Man kann am Ufer des Flusses sitzen bleiben und warten, bis die Trümmer des Fahrzeugwracks vorbeiziehen.

Freiheit, Freiheit, ist die einzige, die fehlt

Dort am Ufer sitzend könnte man sich dann entspannt besinnen auf die relevanten Fragen, die den Problemen unseres Landes gerecht werden. Lösungen für alles findet man auch dort nicht, aber man spürt den aufrichtigen Drang, so viele wie möglich zu entdecken und zu erarbeiten. Da unterscheidet sich die Handlungsmatrix: Die einen haben nur mehr eine einzige Meinung, die gegen jeden Widerstand, jedes gegenteilige Beweisstück, jedes vernünftige Argument, jede stichhaltige Statistik, jede Wissenschaft, jede Vernunft und bisweilen sogar gegen formaljuristische Tatsachen auf Kurs gehalten werden muss. Dort ist man bereit, für diesen Autopiloten in die Bedeutungslosigkeit jede journalistische Sorgfaltspflicht, jede ethische Basis und seine persönliche Integrität über Bord zu werfen.

Die anderen haben sich eine wichtige Fähigkeit erhalten. Die Fähigkeit, trotz sehr eindeutig identifizierbarer politischer Überzeugungen weiterhin in der Lage zu sein, die theoretische Möglichkeit, der eigene präferierte Weg könne unter Umständen nicht in allen Facetten der richtige sein, im Rausch seiner als Freiheit fehlinterpretierten Egozentrik nicht komplett auszuschließen. Sich publizistisch so einzuordnen, dass man am Ende einer Diskussion auch mal seine Meinung ändern darf.

Das ist nämlich die wahre Freiheit: Seine Meinung mit allem was man hat kundzutun, zu verteidigen und zu predigen – aber fähig zu sein, sie gelegentlich vernünftig zu modifizieren, sollte sich der Horizont entsprechend erweitern. Strikt Vollgas zu geben in einem schmalen, stahlbetonierten Korridor und sich dabei durch intellektuell selbstkasteiende Scheuklappen der Unfehlbarkeit jeder Möglichkeit zur Kurskorrektur selbst zu beschneiden, ist alles Mögliche – nur eines mit Sicherheit nicht: Freiheit.

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