Die deutsche Niederlage gegen die Türkei fördert die altbekannten Probleme zutage. Julian Nagelsmann wird bis zur EM wohl keine perfekten Konstellationen mehr finden - der Bundestrainer bleibt trotzdem optimistisch.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als alles vorbei war, die Massen abgewandert und das Stadion deshalb wieder leer, bemühte Julian Nagelsmann einen dieser soften Faktoren bei seiner Analyse.

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"Wir waren in der ersten Halbzeit nicht bereit, an die Grenze zu gehen. Wir müssen das Spiel in den ersten zehn Minuten zumachen. Dann bekommen wir die Gegentore und nach 25 Minuten haben wir nicht mehr viel gemacht. Dann wird es schwer", sagte der Bundestrainer am "RTL"-Mikrofon und strich die fehlende "Emotionalität" seiner Mannschaft als einen entscheidenden Grund für die 2:3-Niederlage gegen die Türkei heraus.

Nagelsmann will sich offenbar mit der Aufarbeitung der fünften Niederlage in diesem Kalenderjahr und der ersten im dritten Spiel unter seiner Verantwortung gar nicht zu lange oder zumindest zu öffentlich zuwenden. "Wir können jetzt schwarzmalen und alles schlecht sehen, da werden wir aber nicht weiterkommen als Fußball-Nation! Ich bin weit davon entfernt, alles negativ zu sehen. Sinnvoll ist es nicht, schwarzzusehen, davon werden wir nicht besser."

Ein gutes halbes Jahr vor der Europameisterschaft im eigenen Land ist das aber die große Aufgabe - bei der Nagelsmann spätestens jetzt alle Tücken und Probleme schonungslos aufgezeigt bekommt. Wie schon seine Vorgänger, Hansi Flick und Joachim Löw.

DFB-Team: Gegentore nach bekannten Mustern

Seit Jahren stagniert die Entwicklung der Mannschaft nun schon in ihrer Gesamtheit. Natürlich gibt es, seit Nagelsmann übernommen hat, auch viele kleine Fortschritte in einzelnen Bereichen: Das Spiel mit dem Ball hat sich verändert, wichtige Offensivspieler wie Florian Wirtz oder der aktuell verletzte Jamal Musiala hat Nagelsmann auf die für sie besten Positionen gestellt, die Struktur der deutschen Angriffe ist klar erkennbar und wird sich im Laufe der kommenden Monate auch noch weiter einschleifen.

Dem gegenüber bleiben aber die teilweise massiven Probleme im Spiel gegen den Ball. Die eingeforderte Variabilität im eigenen Pressing - mal hoch zu attackieren, um dann auch mal wieder etwas tiefer zu stehen und im Rücken nicht zu viel Raum preiszugeben - führt nicht zu mehr Stabilität. Vielmehr erweisen sich die Übergänge als neuralgisch verwundbare Momente.

Das erste Gegentor gegen die Türkei steht dafür beinahe exemplarisch. Benny Henrichs als rechter Außenverteidiger folgte einem Gegenspieler ins Zentrum und öffnete den Raum hinter sich, sein Nebenmann Leroy Sané erkannte die Gefahr zu spät und schloss nicht schnell genug. Und weil 50 Meter weiter vorne kein Balldruck aufgebaut wurde, genügte den Türken ein langer Schlag hinter die deutsche Abwehrkette und ein Tiefenlauf, um zum Torerfolg zu kommen.

"Das erste Gegentor ist zu simpel, wo wir es nicht gut verteidigt haben. Es hat nichts mit Ordnung zu tun. Wir lassen den Rücken zum Tor sehr frei. Wir wollen nach vorne verteidigen, wo es nicht geht und dann sind wir zu offen. Wenn wir einfach ein bisschen tiefer bleiben, passiert das nicht", erklärte Nagelsmann das Abstimmungsproblem und die gruppentaktisch wie individuell falschen Entscheidungen einzelner Spieler.

Nagelsmann hätte auch den zweiten Gegentreffer für seine Analyse nehmen können, als die beiden deutschen Innenverteidiger Jonathan Tah und Antonio Rüdiger aus ihren Positionen im Zentrum gezogen wurden und es Henrichs war, der eingerückt gegen letztlich zwei Gegner verteidigen musste - das alles keine elf Meter vor dem eigenen Tor und erneut nach einem langen Zuspiel in die Spitze.

Keine Stabilität in der Abwehr

Fehler oder Fehlerketten sind mittlerweile ein unschönes Erkennungszeichen dieser Mannschaft. Dazu kommt eine Personalwahl, die immer noch mehr an Experimente erinnert, denn an eine festsitzende Struktur oder sogar ein Gerüst.

In der Innenverteidigung zeichnet sich noch immer keine dauerhafte Lösung ab, von der Idee einer perfekten Besetzung sollten die Fans so langsam endgültig Abschied nehmen. Entweder sind die Defizite im Spielaufbau und bei hohem Gegnerdruck bei einigen zu groß oder aber die verlässlich eingebauten defensiven Schwächen. Oder im Zweifel beides, wie bei Rüdiger: Der bringt zwar im Klub verlässlich seine Leistung, ist im DFB-Dress aber in jedem Spiel für ein, zwei dicke Böcke gut.

Und weil der DFB es seit mehr als zehn Jahren nicht geschafft hat, einen für beide Spielrichtungen geeigneten Außenverteidiger auf Spitzenniveau auszubilden, muss sich der Bundestrainer eben mit Verlegenheitslösungen behelfen. Nagelsmann probierte den gelernten Offensivspieler Kai Havertz auf dem linken Flügel und bescheinigte dem eine gute Leistung.

Allerdings dürften auch dem Bundestrainer Havertz' Probleme in den Details nicht verborgen geblieben sein: Wann er sich wie zu positionierten hat, wie er sich im Defensiv-Zweikampf verhält, wie er sich mit dem linken Innenverteidiger abspricht, wann er aus der Position nach vorne attackiert - und wann eben auch nicht.

Havertz als linker Verteidiger oder Schienenspieler entspricht zwar total dem Nagelsmann-Ansatz von einem mutigen, aggressiven Offensivfußball. Zur Stabilisierung der ohnehin schon wackeligen Balance in der Mannschaft trägt das aber kaum bei.

Wer passt im zentralen Mittelfeld zusammen?

Wie übrigens auch im defensiven Mittelfeld: Die Kombination mit Joshua Kimmich und Ilkay Gündogan auf der Doppel-Sechs birgt genug Potenzial für glänzende Offensivmomente - aber keiner der beiden hat besondere Qualitäten als Abräumer vor der Abwehr. Als Instanz, einem gegnerischen Konter auch mal mehr entgegenzusetzen als "nur" die zentrale Innenverteidigung und den Torhüter.

"Fußballerisch ist das sehr, sehr gut, das sind beides gute Fußballer", sagte Nagelsmann angesprochen auf das Herzstück der Mannschaft und musste dann aber auch die negativen Momente erklären: "Wenn Spiele emotional werden, müssen wir dann gegen körperlich gute Sechser oder auch Zehner vom Gegner sehr clever verteidigen. Das ist schon so! Die beiden haben das im Kreuz. Aber klar: Das ist auch ein Punkt, wo wir einfach je nach Gegner sicherlich auch gewisse Dinge anpassen können." Oder etwas anders formuliert: Auch Kimmich und Gündogan sind nicht die ideale Besetzung.

Deshalb reiht sich auf den Postionen ab der Mittellinie ein Problemchen an das andere, werden sich bis zum Endturnier im kommenden Sommer wohl keine optimalen Lösungen mehr finden lassen und der Bundestrainer weiter "auf Lücke" unterwegs sein und improvisieren müssen.

Schon sehr bald zu sehen beim nächsten Spiel - und das wird es in vielerlei Hinsicht in sich haben: Mit Österreich wartet ein nochmal deutlich besserer Gegner als die Türkei auf Nagelsmanns Mannschaft, der genau die Schwachstellen dauerhaft bespielen wird mit seinem Pressing und seiner Aggressivität.

"Fußballerisch sind sie besser als die Türkei, sie bringen auch diese Emotion rein. Da muss jeder auf dem nötigen Emotionsniveau sein! Dann setzt sich auch die bessere Mannschaft durch", hofft Nagelsmann. Denn noch eine Niederlage - Testspielcharakter hin oder her - in einem emotional aufgeladenen Duell und zum Jahresabschluss wäre fatal.

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