Das Thema Migration prägt den Bundestagswahlkampf. Die Parteien überbieten sich mit Forderungen – doch was sorgt für mehr Sicherheit? Zwei Experten kritisieren: Die aktuelle Debatte geht an der eigentlichen Problemlösung vorbei.
Mit dem mutmaßlichen Anschlag in München Mitte Februar und nach der Bluttat von Aschaffenburg Ende Januar sind innere Sicherheit und Migration endgültig zu den zentralen Wahlkampfthemen geworden. Auffällig dabei: Die Begrenzung der sogenannten irregulären Migration steht besonders im Fokus.
Migration als bestimmendes Thema
So brachte etwa die Union unmittelbar nach den Morden in Aschaffenburg einen Antrag und einen Gesetzentwurf im Bundestag ein, um möglichst zeitnah die Migration nach Deutschland weitgehend zu stoppen. Am besten noch vor der Wahl, notfalls auch mit den Stimmen der AfD. Seit den Abstimmungen ist die Debatte um Migration noch schriller als zuvor.
Unter dem Motto "Wort statt Wortbruch. Zehn-Punkte-Plan für eine bessere Sicherheit" legte auch der Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck seinen Plan für eine neue Migrationspolitik vor. Auf Ramona Rischke vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) wirkt die aktuelle Debatte wie ein Wahlkampfreflex. "Wir müssen sehr präzise definieren, was genau das Problem ist, das wir lösen wollen", sagt sie im Gespräch mit dieser Redaktion.
Die Union wirbt für eine direkte Zurückweisung von Menschen an den Grenzen und damit für einen "faktischen Aufnahmestopp". Ein Vorstoß, der europarechtlich mindestens fragwürdig ist. Schließlich gehören offene Grenzen ohne Dauerkontrollen zur Grundidee des Schengenraums – das Recht auf Asyl wiederum ist Bestandteil der Genfer Flüchtlingskonvention.
SPD und Grüne lehnen eine pauschale Zurückweisung an den Grenzen dagegen ab. Sie wollen die Migration nach Deutschland steuern, indem die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hierzulande umgesetzt wird.
Was regelt das GEAS?
- Das Gemeinsame Europäische Asylsystem legt Mindeststandards fest, an denen sich die EU-Mitgliedsstaaten bei Asylverfahren und Fragen der Unterbringung orientieren müssen.
- Darin ist auch das sogenannte Dublin-Verfahren geregelt, nach dem Geflüchtete in der EU verteilt werden. Es besagt: Für ein Asylverfahren ist zunächst das Mitgliedsland zuständig, in dem der Asylantrag gestellt wurde.
- Die 2023 beschlossene Reform soll den Grenzschutz wirksamer gestalten. Sie sieht unter anderem vor, dass Asylverfahren innerhalb von zwölf Wochen direkt an den Außengrenzen der EU durchgeführt werden.
- Die EU-Mitgliedstaaten sind nun gefordert, die verhandelten Punkte in nationales Recht umzusetzen. (ras)
Expertin Rischke fordert differenzierte Debatte
"Mittlerweile ist es mir lieber, die GEAS-Reform wird endlich umgesetzt, bevor die ganze Zeit weitere Abschottungsmaßnahmen gefordert werden", sagt Rischke dazu. Und das, obwohl sie und ihr Team vom DeZIM der Asylreform generell skeptisch gegenüberstehen. Aus ihrer Sicht kann ein Teil der Maßnahmen kaum menschenrechtskonform umgesetzt werden.
Außerdem ist sie überzeugt: "Fluchtmigration als solche lässt sich nur sehr begrenzt steuern." Denn mit dichten Grenzen würden Fluchtursachen nicht verschwinden. Am Ende könnten sie nur dafür sorgen, dass weniger Menschen lebendig ankommen. "Das ist aber nicht die Idee des humanitären Flüchtlingsschutzes", sagt sie.
Um Radikalisierungsprozessen zu begegnen, sei nicht Migrationspolitik die richtige Stellschraube, sondern vielmehr Gesellschaftspolitik. Etwa Projekte zur Deradikalisierung oder Integrationsangebote. "Wir müssen aufpassen, dass Problem und Lösung wirklich zusammenpassen", sagt sie. Klar sei, dass die von der Union geforderten stationären Grenzkontrollen keine der Taten in den vergangenen Monaten verhindert hätten.
Migrationsexperte Knaus wirbt für mehr Pragmatismus
Auch aus Sicht des Migrationsexperten Gerald Knaus von der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" geht die aktuelle Debatte am eigentlichen Thema vorbei. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er: "Das Problem ist, dass nicht betrachtet wird, was in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich gewirkt hat."
Es sei Fakt, dass in Deutschland in den vergangenen Jahren mehr Asylanträge gestellt wurden als in den Jahren vor Corona. Das liege an der großen Fluchtbewegung aus der Ukraine, aber auch an 850.000 Asylanträgen innerhalb von drei Jahren aus Afghanistan, Syrien und anderen Ländern.
Nicht über Asyl, Migration und dazugehörige Probleme zu sprechen und keine Lösungen anzubieten, hält Migrationsexperte Knaus für "politisch fahrlässig". Er stellt aber auch klar: "Die Frage ist, wie wir darüber reden." Aus seiner Sicht brauche es in der Frage mehr Pragmatismus.
Immer wieder haben in den vergangenen Jahren Kommunen gewarnt, dass sie der Menge von Schutzsuchenden nicht mehr gewachsen sind. Sie haben Notgipfel gefordert, ohne dass sich am Ende Maßgebliches an der Situation vor Ort verbessert hat. Im September 2024 hat die Union die Verhandlungen mit den Ampel-Parteien über eine gemeinsame Migrationspolitik für gescheitert erklärt.
Unter der Ampel hat sich trotz aller Kritik auch einiges in Sachen Asylpolitik verbessert, meint Rischke. So hätten etwa viele Menschen, deren Bleibeperspektive zunächst unsicher ist, die Möglichkeit bekommen, an Sprachkursen und Bildungsangeboten teilzunehmen und Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Ein grundlegender Faktor für Integration.
Knaus setzt auf Drittstaatenlösung
Migrationsexperte Knaus wirbt für einen Dreiklang aus Maßnahmen, die in der Vergangenheit bereits gewirkt hätten: Als erstes nennt er Abkommen mit sogenannten Drittstaaten außerhalb der EU. Vorbild ist hier der EU-Türkei-Deal von 2016. Er regelte, dass die Türkei Flüchtende davon abhält, nach Europa weiterzureisen, und sie stattdessen bei sich aufnimmt – im Gegenzug für finanzielle Unterstützung.
Knaus sagt dazu: "Es ist kein Menschenrecht, in Deutschland den Asylantrag stellen zu müssen, wenn man ihn auch in einem anderen sicheren Staat stellen kann." Aus seiner Sicht braucht es mehr Pragmatismus und weniger Idealismus: "Ein besseres System ist möglich – auch mit Blick auf die Menschenrechtslage."
Zweitens schlägt Knaus vor, sich auf Abschiebungen von verurteilten Straftätern zu konzentrieren, statt Abschiebungen "im großen Stil" zu versprechen. Und drittens müssten mehr Länder als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden.
"Es bräuchte einfache und schnelle Verfahren für sichere Herkunftsländer." Als sicher könne ein Land etwa dann gelten, wenn nur fünf Prozent der Schutzsuchenden von dort anerkannt würden. "Das nimmt den Menschen nicht das Recht, einen Asylantrag zu stellen", sagt Knaus. All diese Maßnahmen ließen sich aus Sicht des Migrationsexperten im Einklang mit den europäischen Partnern und europäischem Recht realisieren.
Rischke mahnt Einzelfallentscheidungen an
Von der Drittstaatenlösung hält Migrationsexpertin Rischke wenig. In einer Stellungnahme des DeZIM wird besonders kritisiert, dass mit solchen Verfahren nicht sichergestellt werden könne, dass die Drittstaaten Menschenrecht achten. Zudem bezweifeln die Wissenschaftler des Instituts, dass sich die gewünschte Abschreckungswirkung wirklich einstellt.
Der Gegenvorschlag: Europa müsse regionale Schutzsysteme in Staaten unterstützen, in denen viele Menschen Schutz finden. Außerdem brauche es reguläre Fluchtrouten nach Deutschland und andere Staaten sowie Investitionen in die "Aufnahme- und Integrationsinfrastruktur in Deutschland".
Sinnvoller als die Drittstaaten-Lösung findet Rischke das System der sicheren Herkunftsstaaten. Bei der Umsetzung sei es dann aber wichtig, die Einzelfälle im Blick zu behalten. Denn auch in Staaten, die für die Mehrheit ihrer Bevölkerung als sicher gelten, können Minderheiten gefährdet sein.
Aufgabe für neue Regierung
Knaus stellt im Gespräch mit dieser Redaktion klar: Es sei wichtig, dass sich die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag auf Maßnahmen verständigt, die wirken, "so dass das Migrationsthema nicht wie in den USA oder Österreich oder in anderen Demokratien zum Sprengstoff in den Händen derjenigen wird, die das System zerstören wollen".
Es gehe dabei auch um ein Gefühl der Kontrolle, das sich auch in der Bevölkerung wieder ausbreiten müsse, meint Knaus. Was es aus Sicht von Rischke außerdem braucht: Differenzierung und eine präzise Kommunikation, wo eigentlich das Problem liegt.
Verwendete Quellen
- Interview mit Gerald Knaus
- Interview mit Ramona Rischke
- bpb.de: "Demografie von Asylsuchenden in Deutschland"
- dezim-institut.de: "Stellungnahme zu Asylverfahren in Drittstaaten"