Eine strauchelnde Kanzlerin, ein linkes Lager ohne Machtperspektive und eine AfD, an der sich die anderen Parteien die Zähne ausbeißen. Welche Lehren können wir aus der diesjährigen Abstimmung ziehen?
Politiker kündigen nach Wahlen gerne eine genaue Analyse an. Und zu analysieren gibt es in diesen Tagen eine Menge. Diese fünf Lehren zum Beispiel kann man aus der Bundestagswahl ziehen:
1. Merkel hat den Zenit ihrer Macht überschritten
Eine der Überraschungen sind die starken Verluste der Unionsparteien. Auf 33,0 Prozent kommen CDU und CSU gemeinsam - nur bei den ersten Bundestagswahlen 1949 erreichten sie einen noch niedrigeren Wert.
Eine herbe Niederlage ist das vor allem für die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende
"Die Zugkraft von Frau Merkel hat nachgelassen." Die CDU-Chefin verkaufte es am Wahlabend als Erfolg, dass "an der Union vorbei" keine Regierung gebildet werden könne.
In ihrer womöglich letzten Legislaturperiode als Kanzlerin wird Merkel sich aber auf sehr schwieriges Regieren einstellen müssen - wenn sie denn überhaupt eine Koalition schmieden kann.
2. Mitregieren ist zum Wagnis geworden
Nicht umsonst zögern Merkels mögliche Koalitionspartner FDP und Grüne. Die Liberalen haben zwischen 2009 und 2013 erfahren, dass eine Regierungsbeteiligung kein Selbstläufer ist, sondern auch ins politische Verderben führen kann.
Ähnlich erging es in der abgelaufenen Legislaturperiode der SPD: Dass die sozialdemokratischen Minister gerade in der Sozial- und Familienpolitik wichtige Wahlversprechen umgesetzt haben, hat sich für die Partei nicht ausgezahlt.
Das werden auch die Grünen vor Augen haben: Als kleinster Partner in einer Jamaika-Koalition müssten sie fürchten, als Anhängsel von Schwarz-Gelb dazustehen - und die Oppositionsparteien SPD und Linke würden wohl jedes Zugeständnis der Grünen an die Koalitionspartner genüsslich ausschlachten.
3. Die politische Linke in Deutschland hat ein Problem
Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping nannte in der Berliner Runde eine Zahl, um die Krise der linken Parteien in Deutschland auf den Punkt zu bringen.
Zum ersten Mal seit 1990 haben SPD, Grüne und Linke zusammen betrachtet weniger als 40 Prozent der Wähler hinter sich gebracht.
Ein rot-rot-grünes Bündnis stößt in Teilen der Parteien und auch bei vielen Bürgern zwar ohnehin auf große Vorbehalte. Bei diesen Wahlergebnissen wäre es aber auch rechnerisch gar nicht in greifbarer Nähe.
Die SPD ist auf den niedrigsten Wert ihrer Geschichte zurückgefallen, Linke und Grüne konnten zwar hinzugewinnen, die Verluste der Sozialdemokraten aber bei weitem nicht wettmachen.
Den Großteil des Protests gegen die amtierende Regierung hat dieses Mal die AfD als rechte Partei auf sich gezogen.
4. Die Politik braucht mehr Diskussionen
Hinter Deutschland liegen vier Jahre mit einer großen Regierung und einer kleinen Opposition. Zudem konnten sich Proteste gegen die Flüchtlingspolitik kaum im Bundestag artikulieren.
"Der Mangel an inhaltlicher Debatte und an klaren Alternativen im Parlament hat auch zu Unzufriedenheit geführt", glaubt Politikwissenschaftler Jörg Siegmund.
Er erwartet deshalb, dass die Politik von schärferen Debatten im Bundestag mit bald sieben Parteien und sechs Fraktionen durchaus profitieren kann.
Ob sich die Abgeordneten - vor allem die von der AfD - an die Regeln eines fairen Umgangs halten werden, bleibt aber wohl abzuwarten.
5. Ein Mittel im Umgang mit der AfD haben die anderen Parteien noch nicht gefunden
Viele Experten sind sich einig, dass die AfD sich in den vergangenen Monaten zunehmend radikalisiert hat. An den Wahlurnen hat ihr das aber kaum geschadet.
Mit ihrem Wahlergebnis von 12,6 Prozent hat die Partei noch etwas besser abgeschnitten, als es die Umfragen andeuteten. Auch heftige Angriffe anderer Politiker haben offenbar nur wenig Anhänger davon abgehalten, bei den Populisten ihr Kreuz zu machen.
Aber auch eine Annäherung an AfD-Positionen hat sich nicht ausgezahlt: Die CSU kritisierte zwar deutlich die Flüchtlingspolitik der CDU-Kanzlerin und blieb bei ihrer Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge.
Mit diesem Kurs fuhr die CSU aber desaströse 38,8 Prozent in Bayern ein. Und ausgerechnet in Bayern erreichte die AfD mit 12,4 Prozent ihr bestes Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland.
Der Parteienforscher Oskar Niedermayer ist der Überzeugung, dass die etablierten Parteien nun nicht versuchen sollten, die teils extremen Neulinge von der AfD von Posten fernzuhalten - etwa dem eines Bundestagsvizepräsidenten.
"Das würde sie wieder in ihrer Opferrolle stärken", so der Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.
Schon die Angriffe auf die AfD-Spitzenkandidaten haben seiner Einschätzung nach unter ihren Anhängern eher zu einem Solidarisierungseffekt geführt. "Man muss die AfD inhaltlich stellen, ihre Positionen hinterfragen", so Niedermayer, "und das ist auch möglich."
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