• Der Bundestag erlebt bereits den politischen Wandel, über den SPD, Grüne und FDP noch verhandeln: In der ersten Sitzung tritt ein alter Fahrensmann ab.
  • Das Parlament bekommt zum dritten Mal eine Präsidentin.
  • Und die Kanzlerin sitzt auf einem ungewohnten Platz.

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Die Kanzlerin kommt sieben Minuten vor Sitzungsbeginn. Um 10:53 Uhr betritt Angela Merkel den Plenarsaal im Reichstag - wie so oft fast unbemerkt. Was an diesem Tag aber vor allem daran liegt, dass die CDU-Politikerin nicht den Weg zur Regierungsbank sucht, noch nicht einmal zu den Abgeordnetenplätzen.

Merkel nimmt zur konstituierenden Sitzung des Bundestags auf der Besuchertribüne Platz - zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Nichts symbolisiert den politischen Wechsel, vor dem Deutschland steht, mehr als diese Szene.

Genau 30 Tage nach der Wahl nimmt der Bundestag seine Arbeit auf - er reizt damit die vom Grundgesetz vorgegebene Frist voll aus. Eröffnet wird die Sitzung traditionell vom Alterspräsidenten, was seit 2017 der dienstälteste Abgeordnete ist, also Wolfgang Schäuble. Es dauert jedoch eine Viertelstunde, bis der CDU-Mann richtig loslegen kann, denn die AfD beantragt, dass das Amt wieder dem an Lebensjahren ältesten Abgeordneten übertragen werden soll, wie das vor 2017 der Fall war. Das wäre ihr Abgeordneter Alexander Gauland.

Dass sich ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann dabei zu einem Vergleich mit dem früheren NS-Funktionär Hermann Göring versteigt, löst den ersten Tumult des Tages aus. Es soll nicht der einzige bleiben. Denn als kurz darauf Jan Korte von der Linken der AfD bescheinigt, sie stehe "in der Tradition der Nazis", toben die Rechtspopulisten.

Aber das sind nur die schon aus der alten Wahlperiode bekannten Scharmützel - an einem Tag, an dem der Bundestag den vielleicht letzten großen Auftritt Schäubles erlebt. Also jenes Politikers, der dem Parlament seit fast einem halben Jahrhundert angehört - und der in seinem politischen Leben zumeist eine herausgehobene Stellung hatte. Sei es als Vorsitzender der Unionsfraktion, als Kanzleramtschef, Bundesminister (Innen, Finanzen) oder zuletzt Bundestagspräsident. Und der nach diesem Tag nur noch einfacher Abgeordneter sein wird.

Wolfgang Schäuble findet deutliche Worte

Es klingt fast wie ein Vermächtnis, wenn Schäuble in seiner Rede mahnt: "Es braucht ein selbstbewusstes Parlament - selbstbewusste Parlamentarier." Wenn er die Abgeordneten zum leidenschaftlichen, aber fairen Streit aufruft: "Wenn wir das Prinzip der Repräsentation stärken wollen, dann müssen wir uns immer wieder um die Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen." Denn: "Das Parlament ist immer auch eine politische Bühne und nicht bloß eine notarielle Veranstaltung, um Koalitionsverträge abzuarbeiten."

Auch einen Seitenhieb auf die Justiz gestattet sich Schäuble. Es liege an den Abgeordneten, "wie weit wir unsere Gestaltungsspielräume als Gesetzgeber einengen lassen durch eine Rechtsprechung, die bisweilen mindestens an die Grenzen ihres Mandats geht". Dazu gehöre allerdings auch, "Verantwortung, die politisch wahrzunehmen ist, nicht auf Gerichte abzuwälzen".

Zur politisch wahrzunehmenden Verantwortung zählt für den CDU-Mann auch eine effektive Wahlrechtsreform, um das auf 736 Abgeordnete angewachsene Parlament wieder kleiner zu bekommen. Er selbst war mit diesem Vorhaben in den eigenen Reihen gescheitert. Diese Reform sei nicht leichter geworden, räumt Schäuble jetzt ein. Aber: "Sie duldet ersichtlich keinen Aufschub."

Am Ende applaudieren die Abgeordneten dem parlamentarischen Grandseigneur im Stehen - auch die der AfD ringen sich nach anfänglichem Zögern dazu durch. "Bringen Sie mich bitte nicht zu sehr in Rührung", entfährt es Schäuble.

Stimmung im Bundestag ist offenbar ausgelassen

Jenseits der von der AfD in die Sitzung gebrachten Schärfe ist es ein sehr entspannter Tag im Reichstagsgebäude. Abgeordnete machen vor Beginn der Sitzung und in Auszählpausen Selfies. Olaf Scholz (SPD), der demnächst im Bundestag zum Kanzler gewählt werden will, lehnt entspannt an einer Abgeordnetenbank und plaudert mit der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Und Schäuble ruft fast keck "hallo, hallo", als er das Ergebnis der Wahl seiner Nachfolgerin bekannt geben will. "Frau Präsidentin, bitte übernehmen Sie das Amt", sagt er kurz darauf zu der mit großer Mehrheit gewählten Bärbel Bas.

Erst einmal atmet die SPD-Politikerin am Rednerpult hörbar tief durch, was Heiterkeit bei den Abgeordneten auslöst. Ihre dann folgende Rede dürfte ganz im Sinne Schäubles sein. Denn auch sie mahnt eine Wahlrechtsreform an: "Ich fordere jetzt schon die Fraktionen auf, das Wahlrecht auf die Tagesordnung zu setzen."

Bärbel Bas macht zu Beginn klare Ansagen

Bas fordert einen respektvollen Umgang miteinander im Bundestag und betont: "Wir sind nicht hier, um einander persönlich zu bekriegen." Zugleich macht sie deutlich: "Hass und Hetze sind keine Meinung. Als Präsidentin werde ich dieses Parlament vor Angriffen schützen. Und die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen."

Bas ruft die Abgeordneten dazu auf, sich in ihrer politischen Arbeit gleichermaßen um die Menschen zu kümmern, die sich von der Politik abgewandt haben, wie um die Mitte der Gesellschaft. Und das in verständlicher Sprache, um zu zeigen, "dass wir das Wohl aller im Blick haben". Die SPD-Frau aus Duisburg macht es selbst vor.

Steinmeier lobt Merkel als prägende Figur der deutschen Geschichte

Kanzlerin und Bundespräsident verlassen die Besuchertribüne im Anschluss. Im Schloss Bellevue sehen sie sich wieder, wo Steinmeier Merkel und ihrem Kabinett die Entlassungsurkunden überreicht. Merkel er lobt als prägende Figur der deutschen Geschichte. In 16 Jahren Amtszeit habe sie viele Krisen erlebt, das Vertrauen der Bürger gewonnen und Deutschland zugleich international Achtung, Respekt und sogar Zuneigung erworben. Auch nach ihrer Entlassung bleibt die Bundesregierung nun geschäftsführend im Amt, bis ein neuer Kanzler und neue Minister gewählt sind.

Steinmeier beschreibt Merkel als "prägend für unser wiedervereintes Land und für das Bild unseres Landes in der Welt; prägend für eine ganze Generation junger Frauen und Männer, denen sie eine neue, ganz eigene Form der Führung vorgelebt hat". Ihr Handeln habe Sicherheit und Verbindlichkeit vermittelt - mitunter aber auch überrascht. Mutig nannte Steinmeier die Entscheidung, Verantwortung in der Flüchtlingskrise zu übernehmen.

Merkels letzte Legislaturperiode sei herausfordernd gewesen - nicht nur wegen der Corona-Pandemie, sondern auch, weil sie von Anfang an unter dem Eindruck wachsender Polarisierung in der Gesellschaft gestanden habe. (dpa/ari/ash)

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