Im Fall des offenbar vergifteten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hat sich die russische Seite bereits mehrfach widersprochen. Das ist kein Versehen, dahinter steckt System.

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Alexey Nawalny liegt weiterhin im künstlichen Koma, mittlerweile seit einer Woche. Sein Gesundheitszustand ist kritisch, aber der russische Oppositionelle schwebt laut behandelnden Ärzten der Berliner Universitätsklinik Charité nicht in Lebensgefahr.

Die klinischen Befunde sprechen bei der Ursache für die schwere Erkrankung eine eindeutige Sprache: Sie weisen "auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin", heißt es in einer am Montag veröffentlichten Mitteilung der Klinik. Nawalny wurde wohl vergiftet, die Wirkung des Giftstoffs sei mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen worden. Lediglich um welche Substanz es sich genau handelt, ist noch unklar.

Während der 44 Jahre alte Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Intensivstation liegt, macht der Kreml das, was er bei ähnlichen Vorfällen immer macht: Jegliche Verwicklung abstreiten und Nebelkerzen zünden.

Alexej Nawalny: Übereinstimmende Analyse, unterschiedliche Schlussfolgerungen

Nawalny war in der vergangenen Woche in Sibirien unterwegs, um den Wahlkampf in einigen Regionen Russlands vor den Abstimmungen am 13. September vorzubereiten. Auf dem Rückflug nach Moskau verlor er das Bewusstsein, die Maschine musste in Omsk notlanden.

Für die Bundesregierung ist die Lage eindeutig. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas forderten die russischen Behörden in einer gemeinsamen Erklärung "dringlich" auf, "diese Tat bis ins Letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz".

Die russische Staatsführung zweifelt hingegen die Testergebnisse aus Deutschland an und verbat sich die "haltlosen Vorwürfe". Die Mitteilung der Berliner Klinik habe "nichts Neues" enthalten, behauptete Putins Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Die medizinische Analyse der deutschen Ärzte stimme "absolut mit unserer überein, aber die Schlussfolgerungen sind unterschiedlich".

Es gebe viele Gründe, weshalb ein Cholinesterase-Wert sinken könne. Eine Möglichkeit sei die Einnahme von Medikamenten, bemerkte Peskow.

Eine andere: chemische Kampfstoffe wie etwa Nowitschok.

Trotzdem: "Wir verstehen nicht, warum es unsere deutschen Kollegen so eilig haben, das Wort 'Vergiftung' zu verwenden", sagte Peskow. Russland zumindest werde erst ermitteln, wenn Nawalny wirklich vergiftet worden sei.

Über hundert beschlagnahmte Gegenstände, aber keine Spuren

Untersuchungen wurden dennoch gemacht, in Nawalnys Hotelzimmer sowie auf Wegen und Straßen. Die Polizei beschlagnahmte nach eigenen Angaben mehr als hundert Gegenstände, die möglicherweise als Beweis bei den Untersuchungen dienen könnten. Auch seien Überwachungskameras ausgewertet und mehr als 20 forensische Studien durchgeführt worden.

Das Ergebnis: "Im Moment wurden keine stark wirkenden Mittel oder Drogen gefunden", wie die Behörden der Agentur Interfax zufolge am Donnerstag mitteilten.

Die Chefredakteurin des staatlichen russischen Auslandssenders RT, Margarita Simonjan, hatte bereits zuvor gespottet, Nawalny hätte lediglich einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel gehabt. "Wenn sie ihm im Flugzeug einen Löffel Zucker gegeben hätten, wäre nichts passiert." Sie selbst habe immer Pralinen dabei.

180-Grad-Wende innerhalb weniger Stunden

Diese Aussagen fügen sich ein in das zynische wie widersprüchliche Bild, das die russische Seite seit einer Woche zeichnet: Nur einen Tag, nachdem Nawalny in die Notaufnahme im sibirischen Omsk eingeliefert worden war, hatte die Polizei den behandelnden russischen Ärzten mitgeteilt, dass sie ein vermutlich "tödliches Mittel" gefunden hätten. Das sagte der Chef von Nawalnys Anti-Korruptions-Fonds, Iwan Schdanow. Ein Polizist habe es dem Chefarzt auf seinem Mobiltelefon gezeigt.

Das Gift sei demnach sogar so gefährlich, das auch Menschen in der Umgebung des Patienten Schutzanzüge tragen sollten, sagte Schdanow weiter.

Nur wenige Stunden später die 180-Grad-Wende.

Die Ärzte hätten nach eigenen Angaben weder im Blut noch im Urin Spuren einer möglichen Vergiftung gefunden. "Wir gehen nicht davon aus, dass der Patient eine Vergiftung erlitten hat", sagte der Vize-Chefarzt Anatoli Kalinitschenko. Gegen eine Verlegung Nawalnys nach Berlin sperrte sich die Klinik trotzdem – und ließ ihn erst am Samstag ausfliegen.

"Die Öffentlichkeit soll verwirrt werden"

Ob der Absturz von MH17 über der Ostukraine, der Anschlag auf Sergej Skripal oder der Mord an Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten: Zweifel zu säen gehört zum Standardrepertoire russischer Geheimdienste. Sich völlig widersprechende Darstellungen sind dabei kein Versehen, sondern Absicht.

"Der Gegner und die Öffentlichkeit sollen verwirrt werden. Durch das Verbreiten einer Vielzahl an Behauptungen und 'alternativen Fakten' soll konterkariert werden, was wirklich passiert ist", sagte der Russland-Experte Stefan Meister unserer Redaktion bereits vergangenen Dezember mit Blick auf den Mord in Berlin und die unterschiedlichsten verbreiteten Behauptungen aus Russland.

Mit dem Vorgehen werde Meister zufolge auch von tatsächlich bestehenden Problemen abgelenkt.

Geheimdienstler im Büro des Chefarztes?

Viel spricht zudem im aktuellen Fall dafür, dass die russischen Ärzte unter Druck gesetzt wurden. So veröffentlichte Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter ein Foto aus dem Büro des Chefarztes des Omsker Krankenhauses. Laut Jarmysch soll es drei Geheimdienstler beziehungsweise Ermittler zeigen. "Sie stellen sich nicht vor. Sie sprechen gerne über abstrakte Themen, sie beantworten keine Fragen zu Alexej", bemerkte Jarmysch.

Nawalnys Team hofft nun weiter auf eine erfolgreiche Behandlung des Oppositionspolitikers in der Charité. "Alexej ist jetzt in Sicherheit, er bekommt die bestmögliche Versorgung", schrieb sein Mitarbeiter und Vertrauter Leonid Wolkow am Mittwoch in einem Newsletter. "Das Schrecklichste ist vorbei und wir alle hoffen auf einen glücklichen Ausgang der Behandlung."

Und der Kreml? Der zeigt sich unbekümmert.

Moskau rechnet nicht mit einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zum Westen. "Natürlich wollen wir das nicht. Zweitens gibt es keinen Grund dafür", sagte Putin-Sprecher Peskow am Mittwoch der Agentur Interfax zufolge.

Um dann zu ergänzen: "Auch wir haben Interesse festzustellen, was mit dem Patienten passiert ist, der jetzt in einem Berliner Krankenhaus behandelt wird."

Peskow weigert sich partout, den Namen Nawalnys auszusprechen. "Er ist ein Patient und er ist krank. So nennen wir ihn", entgegnete Peskow Journalisten auf Nachfrage. Auch das gehört zum System.

Verwendete Quellen:

  • Agenturmaterial der dpa
  • Pressemitteilung der Charité: "Klinische Befunde weisen auf Vergiftung von Alexei Nawalny hin"
  • WEB.DE-Interview mit Stefan Meister, Büroleiter Südkaukasus der Heinrich Böll Stiftung.
  • Tweet von Kira Jarmysch
  • Tweet von Margarita Simonjan
  • Medzua: "Песков каждый день говорит о Навальном, но не называет его по имени. Почему"
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