• Schahina Gambir ist selbst in Afghanistan geboren und Obfrau der Grünen in der neuen Enquete-Kommission des Bundestags zum dortigen Bundeswehr-Einsatz.
  • Im Interview äußert sich die Politikerin auch zur Klimakrise und der neuen Regierung in NRW, an der ihr Landesverband beteiligt ist.
  • Sie äußert sich auch zu den von der Bundesregierung geplanten Verbesserungen in Sachen Lobbyismus.
Ein Interview

Gut 100 der 736 Abgeordneten des Deutschen Bundestags sind unter 35. Bis zu dieser Altersgrenze darf man in der Regel Mitglied der jeweiligen politischen Jugendorganisation sein. In unserer Interview-Reihe sprechen wir mit jungen Politikerinnen und Politikern über ihre Ziele und ihren Blick auf ihre Partei. Dieses Mal mit Schahina Gambir (Grüne).

Mehr aktuelle News

Sie sind Obfrau Ihrer Partei für die Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Daneben gibt es noch einen Untersuchungsausschuss zur Evakuierungsmission 2021. Warum befasst sich der U-Ausschuss nicht mit dem ganzen Einsatz?

Schahina Gambir: Es ist wichtig, dass wir zwei verschiedene Gremien haben. Auf der einen Seite geht es darum, den humanitären, militärischen und diplomatischen Einsatz zu evaluieren und zu schauen: Welche Fehler haben wir da gemacht? Wo haben die verschiedenen politischen Ebenen nicht gut zusammengearbeitet? Wir haben vor 20 Jahren die Taliban abgelöst, jetzt sind sie wieder an der Macht. Wie konnte das passieren? Für die Aufarbeitung dieser Fragen, mit Unterstützung aus Wissenschaft und Praxis, gibt es die Enquete-Kommission. Sie wird sich die letzten 20 Jahre genau ansehen und Lehren für die Zukunft ziehen. Der Untersuchungsausschuss wiederum wird die Evakuierungen in den Blick nehmen und der Frage nachgehen, wie es zu dem chaotischen Abzug und den dramatischen Szenen im vergangenen August kommen konnte.

Ist es nicht etwas bequem, sich die politische Ebene und damit auch die Frage nach der politischen Verantwortung nur für einen kleinen Zeitraum anzusehen?

Die Ziele und Arbeitsweisen einer Enquete-Kommission unterscheiden sich grundlegend von einem Untersuchungsausschuss. Ein Untersuchungsausschuss klärt einen ganz bestimmten Sachverhalt auf. Je genauer dieser eingegrenzt ist, desto besser kann er arbeiten. Deswegen ist der kürzere Untersuchungszeitraum für den Untersuchungsausschuss sinnvoll. Die Enquete-Kommission schaut auch zurück, und zwar noch weiter. Daraus werden dann gesetzgeberische Entscheidungen vorbereitet. Sie schaut also auch in die Zukunft. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir uns in diesem Gremium den gesamten 20-jährigen Zeitraum des Einsatzes vornehmen.

Was wären denn Lehren, die Deutschland Ihrer Meinung nach aus dem Einsatz ziehen sollte?

Wenn ich das jetzt schon wüsste, dann müssten wir das Ganze ja gar nicht machen. Mir ist wichtig, dass ich das unvoreingenommen und mit einem offenen Blick angehe. Für mich ist zentral herauszufinden, inwieweit mit der Zivilgesellschaft vor Ort zusammengearbeitet wurde. Zu anderen Fragen und Lehren können wir gerne noch mal in ein bis anderthalb Jahren sprechen, da kann ich dann klarere Antworten liefern.

Aber ist aus den vergangenen Jahren nicht schon viel bekannt? Regierungen haben lange über die Lage vor Ort gelogen und verschiedene Armeen Kriegsverbrechen begangen.

Was wir sagen können, ist, dass wir die meisten Ziele – Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Korruptions- und Armutsbekämpfung, die Stärkung von Frauen- und Mädchenrechten – nicht erreicht haben. Woran das im Kern gelegen hat, darüber kann man viel spekulieren. Es gibt einzelne Erkenntnisse, die schon ans Licht gekommen sind. Aber sich diese Dinge noch einmal im Detail anzusehen, sie in einen Kontext zu setzen und die verschiedenen Informationen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, das wird die Aufgabe in den nächsten Monaten sein.

Ihre Partei betont immer wieder, wie wichtig es sei, dass Deutschland Verantwortung übernehme und Afghanistan nicht vergesse. Warum ist sie dann so still im Fall Julian Assange, der unter anderem dort begangene Kriegsverbrechen aufgedeckt hat?

Es gibt aus dem Parlament heraus Initiativen, die sich für ihn einsetzen, wie man an dem offenen Brief von letzter Woche sehen kann.

Mehrere prominente Grüne, die heute Teil der Bundesregierung sind, haben vor der Bundestagswahl die Freilassung von Assange gefordert, sich seitdem aber nicht oder kaum mehr zu dem Fall geäußert, darunter Robert Habeck, Annalena Baerbock und Claudia Roth.

Ich kann nicht für Annalena Baerbock, Robert Habeck und Claudia Roth sprechen, aber ich kann Ihnen meine Position dazu sagen: Die Auslieferung von Julian Assange wäre ein fatales Signal für Journalistinnen und Journalisten weltweit. Die Forderungen in dem bereits genannten offenen Brief der verschiedenen Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben daher meine Unterstützung.

Ein wichtiges offizielles Ziel in Afghanistan war die Förderung von Frauenrechten. Immer wieder steht der Vorwurf im Raum, dass diese auch instrumentalisiert werden. In einem von Wikileaks 2010 veröffentlichten CIA-Papier hieß es beispielsweise, dass afghanische Frauen „ideale Boten“ seien, um den Erfolgen der Nato-Mission ein menschliches Gesicht zu geben. Wie sehen Sie das?

Wir schauen uns in der Enquete-Kommission den deutschen Einsatz ja insgesamt an. Dabei werden wir vielen verschiedenen Punkten und Vorwürfen nachgehen.

Von Afghanistan nach Nordrhein-Westfalen: Ihr Landesverband ist jetzt Teil einer schwarz-grünen Regierung. Geplant ist ein „klimaneutrales Industrieland“ - ist das mehr als nur eine schöne Formulierung? Umweltverbände sagen, die Vorhaben reichten nicht aus, und dass es gerade in NRW schwierig sei, als Grüne mit der CDU zu koalieren.

NRW hat gewählt und das waren die Mehrheitsverhältnisse. Im Bereich Klima hätten wir uns mehr gewünscht. In einer Koalition muss man aber immer Kompromisse schließen. Als Grüne ist es uns lieber, Teil einer Regierung zu sein als nur von außen zuzuschauen. So gelingt uns die Weichenstellung hin zu grüner Politik. Die Klimakrise kommt mit großen Schritten auf uns zu. In der nächsten Woche erwarten wir bis zu 39 Grad in NRW. Wir müssen uns gesamtgesellschaftlich klarmachen: Die Klimakrise ist da!

Auch das Thema Transparenz ist Ihrer Partei wichtig. Sie selbst haben, wie auch Abgeordnete anderer Parteien, einen entsprechenden Unterpunkt auf Ihrer Website. Trotzdem gibt es immer wieder Lobbyismus-Skandale. Warum wird der Bundestag dieses Problem nicht los?

Als Ampel-Koalition haben wir uns dazu viel vorgenommen. Wir wollen wissen: Wer spricht mit wem und welche Auswirkungen haben diese Gespräche auf politische Inhalte? Hier wollen wir das Lobbyregistergesetz nachschärfen und beispielsweise Kontakte zu Ministerien zukünftig schon ab Referentenebene mit einbeziehen. Zudem setzen wir uns für einen legislativen Fußabdruck ein. So wird transparent, wer Einfluss auf Gesetzesentwürfe genommen hat. Jeder einzelne Skandal in den letzten Jahren erschüttert das Vertrauen in Politiker*innen und in unsere Demokratie.

Die Verbesserungen, die die Koalition plant, gehen NGOs wie Lobbycontrol oder Abgeordnetenwatch aber nicht weit genug.

Der Aufschrei, den es zum Beispiel bei den Maskendeals gab, hat ja immerhin dazu geführt, dass entsprechende Abgeordnete nicht wieder aufgestellt wurden. Das reicht aber nicht. Als Grüne werben wir sehr dafür, den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit wirksamer auszugestalten. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart und das muss jetzt schnell umgesetzt werden. Insgesamt muss klar sein, dass Abgeordnete so nicht arbeiten dürfen und dass dieses Verhalten das Gegenteil unserer Arbeit als gewählte Volksvertreter*innen ist.

Zur Person: Schahina Gambir wurde 1991 in Kabul geboren, machte ihr Abitur in Nordrhein-Westfalen und anschließend eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau. Später studierte sie und leitete von 2016 bis 2021 das Wahlkreisbüro eines Landtagsabgeordneten in NRW. Seitdem ist sie Bundestagsabgeordnete.

Die bisherigen Interviews unserer Reihe

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.