Die Ukraine erhofft sich vom Nato-Gipfel in Vilnius Signale für eine baldige Mitgliedschaft. Die Bundesregierung bremst die Erwartungen und will Kiew lieber Sicherheitszusagen geben. Doch was genau bedeutet das?
2019 hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Nato noch als "hirntot" bezeichnet: Knapp 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs mangelte es dem europäisch-atlantischen Verteidigungsbündnis an militärischer Koordination und politischer Unterstützung.
Doch Totgesagte leben bekanntlich länger: Spätestens Russlands Überfall auf die Ukraine hat Europa deutlich gemacht, dass es keine Garantie auf militärische Sicherheit gibt. Seitdem ist das Bündnis zusammengerückt. "Die Nato ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine geschlossener und entschlossener denn je", sagt Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, gegenüber unserer Redaktion.
Einfach wird es in Vilnius trotzdem nicht: In der Hauptstadt Litauens treffen sich am Dienstag und Mittwoch die Staats- und Regierungschefs der 31 Nato-Staaten zu ihrem diesjährigen Gipfel. Bestimmendes Thema wird auch hier Russlands Krieg gegen die Ukraine sein. "Die von Vilnius ausgehende Botschaft wird klar und deutlich sein: Die Unterstützung für die Ukraine wird so lange fortgesetzt wie erforderlich", sagt Schmid. Doch was genau bedeutet das?
Roderich Kiesewetter (CDU) zu Nato-Gipfel: "Ukraine braucht Signal"
Die ukrainische Regierung hofft auf eine "klare und deutliche Einladung" als Mitglied der Allianz. Auch wenn ein Nato-Sofortbeitritt in Kriegszeiten als politisch ausgeschlossen gilt: Die Ukraine dringt zumindest auf einen Fahrplan zu einer Mitgliedschaft, auf ein Versprechen für die nicht allzu ferne Zukunft.
Diesen Fahrplan fordert auch Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags: Die Ukraine müsse Nato-Mitglied werden, sobald die Sicherheitslage das zulasse. "Die ukrainische Bevölkerung braucht dieses Signal. Wenn die Menschen weiter um ihre Sicherheit fürchten, werden viele das Land verlassen, wenn sie keine Zukunftsperspektive sehen", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die Bundesregierung dämpft allerdings solche Erwartungen: Für eine Einladung zur Mitgliedschaft sei es noch nicht der richtige Zeitpunkt, hieß es am Montag aus Regierungskreisen. Sara Nanni, verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, kann diese Zurückhaltung nachvollziehen: "Mittel- bis langfristig ist die Zukunft der Ukraine in der Nato. Es wäre aber nicht hilfreich, jetzt Daten zu nennen", sagt die Abgeordnete im Gespräch mit unserer Redaktion. "Klar ist, dass es ein deutliches Signal für die Unterstützung der Ukraine geben muss."
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Zu erwarten ist stattdessen, dass Berlin in Vilnius weitere Waffenlieferungen an die Ukraine in Aussicht stellt. Dazu werde es "sehr substanzielle" Ankündigungen geben, hieß es am Montag aus Regierungskreisen. Was genau das bedeuten kann, blieb unklar.
Sicherheitszusagen: Was bedeutet das?
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird in Vilnius erwartet. Ob er sich per Video zuschaltet oder selbst nach Litauen reist, steht noch nicht fest. Wenn sie ihm schon keinen schnellen Beitritt versprechen, werden die Nato-Staaten wohl versuchen, Selenskyj andere Modelle schmackhaft zu machen.
Immer wieder fällt dabei das Wort "Sicherheitszusagen". Dazu soll es eine gemeinsame Vereinbarung geben, die jedes Land um eigene Ankündigungen erweitern kann. Was eine Sicherheitszusage ist, würde also jeder Staat für sich entscheiden. "Das ist auch in Ordnung, solange es transparent ist", findet Grünen-Politikerin Nanni. "Jedes Land muss den Beitrag leisten, den es auch aus innenpolitischen Gründen leisten kann." Polen etwa denkt inzwischen darüber nach, eigene Soldaten in der Ukraine zu stationieren. US-Präsident Joe Biden möchte die Ukraine so schützen, wie es sein Land bereits mit Israel macht.
Die deutsche Bundesregierung gibt sich deutlich vorsichtiger: Sie versteht unter Sicherheitszusagen weitere "militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung": in diesem Verteidigungskrieg gegen Russland und auch im Fall eines weiteren Überfalls in der Zukunft. Weiter ins Detail geht sie nicht.
Mehr militärische Unterstützung fordert CDU-Politiker Roderich Kiesewetter: "Deutschland steht in der Verantwortung, das furchtbare Sterben ukrainischer Soldaten mangels Ausrüstung zu beenden. Die Ukraine braucht weitreichende Waffen, zum Beispiel Marschflugkörper", sagt er. Dass die USA der Ukraine jetzt die international geächteten Clusterbomben (Streumunition) liefern wollen, geschieht aus seiner Sicht "auch aus der Not der Verzweiflung": "Europa leistet weder die Munitions- noch die Waffenproduktion, die nötig wäre."
"Es braucht aktuell keine Nato-Perspektive für die Ukraine, sondern eine Perspektive für ein möglichst schnelles Kriegsende", teilt dagegen Linken-Fraktionschef
Zwei-Prozent-Ziel wird wohl nachgeschärft
In Vilnius wird es ab Dienstag aber auch um Geld gehen, ganz unabhängig von der Ukraine. 2014 hat sich die Nato das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel gesetzt: Jeder Mitgliedstaat verfolge das Ziel, innerhalb von zehn Jahren zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben. Deutschland will erstmals 2024 so weit sein.
Absehbar ist, dass die Nato-Staaten dieses Ziel in Vilnius nachschärfen: Zwei Prozent sollen jetzt keine Zielvorgabe mehr sein, sondern ein Mindestwert. Mindestens 20 Prozent davon sollen zudem in "militärische Hardware", also in Waffen und weitere Ausrüstung, fließen.
Grünen-Politikerin Sara Nanni sieht darin allerdings eher eine politische Zusage, ein Zeichen für den Vertrauensaufbau: "Die Lasten sind innerhalb der Nato noch ungleich verteilt: Die Osteuropäer und die baltischen Staaten haben deutlich höhere Verteidigungsausgaben", sagt sie. "Wichtig ist, dass wir insgesamt in unsere Sicherheit investieren. Das hat die Bundesregierung mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr auch schon vorgemacht."
Deutliche Ablehnung kommt von der Linken: "Schlichtweg absurd ist, dass das Zwei-Prozent-Ziel der Nato faktisch erneut angehoben werden soll – nicht mehr Zielmarke, sondern Minimum sein soll", sagt Fraktionschef Bartsch. Die Bundesregierung könne nicht immer mehr Milliarden für die Bundeswehr ausgeben und dafür bei Kindergrundsicherung und Elterngeld sparen. "Ich erwarte vom Bundeskanzler klare Impulse für den Frieden und drei klare Absagen: Nein zu einem Nato-Beitritt der Ukraine, Nein zu geächteten Waffen und Nein zu immer weiteren Milliarden für die Rüstung", sagt Bartsch.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Roderich Kiesewetter und Sara Nanni
- Schriftliche Stellungnahme von Nils Schmid und Dietmar Bartsch
- Nato.int: Wales Summit Declaration
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