• Nach den Scheinreferenden in der Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin die Annexion von vier Gebieten angekündigt.
  • In einer feierlichen Rede im Kreml teilte er scharf gegen den Westen aus und drohte auch wieder mit dem Einsatz von Nuklearwaffen.
  • Viele der Aussagen waren schon bekannt, ein Experte erkennt in zwei Punkten aber eine neue Qualität.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In einer feierlichen Zeremonie hat Kreml-Chef Wladimir Putin die Annexion der vier ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson angekündigt. Im russischen Staatsfernsehen wurde übertragen, wie die Verträge zur Aufnahme der Regionen unterzeichnet wurden.

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In einer knapp 40-minütigen Rede erklärte Putin das besetzte ukrainische Territorium zu russischem Staatsgebiet und erhob schwere Vorwürfe gegen den Westen. Zuvor waren in den vier Gebieten Scheinreferenden abgehalten worden. "Die Leute haben ihre Wahl getroffen, ihre eindeutige Wahl", sagte Putin. Die Abstimmungen waren weder frei, noch geheim, noch gleich, Beobachter berichteten, dass Bewohner der besetzten Gebiete zum Urnengang gezwungen wurden.

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Putin: Russland wird Gebiet "mit allen Mitteln" verteidigen

Putin sprach von einem "gemeinsamen Schicksal" und einer "tausendjährigen Geschichte". Die geistige Verbindung sei von Generation zu Generation übertragen worden, die Menschen würden sich als Teil von Russland sehen. "Unsere Väter und Großväter kämpften hier während des Großen Vaterländischen Krieges (Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1941-1945) bis zu ihrem heldenhaften Tod", erinnerte er.

Im Laufe der Geschichte sei Russland "zerstückelt" worden, durch die Annexion würde die historische Einheit des Landes wiederhergestellt. "Man hat versucht, Hass in diesen Menschen zu züchten gegen Russland", behauptete er. Sie seien mit Repressionen bedroht worden. "Sie werden zu unseren russischen Staatsbürgern", betonte er vor hunderten geladenen Gästen.

Kiew forderte er auf, die "Kämpfe sofort einzustellen" und die Entscheidung zu respektieren. "Russland wird sein Gebiet mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen, verteidigen", kündigte Putin an. Man werde Schulen, Theater, Krankenhäuser und Museen wiederaufbauen und die Rentenversorgung wiederherstellen. Die Menschen in den aufgenommenen Gebieten würden die "Unterstützung von ganz Russland spüren", so Putin.

Hasstirade auf den Westen

Er teilte auch massiv gegen den Westen und die USA aus. Es handele sich um ein "neokoloniales System", der Westen plündere den Rest der Welt durch die "Macht des Dollars". Putin sagte: "Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat der Westen entschieden, dass sich alle Menschen seinem Diktat unterwerfen müssen." Der Westen würde nur eigennützige Ziele verfolgt. Russland sei aber trotz dieses Diktats wieder erstarkt.

"Der Westen denkt, er kommt unbestraft davon", drohte Putin. Doch Russland lasse sich nicht für dumm verkaufen. Die Regeln des Westens seien "Schwachsinn". "Die USA wollen keine souveränen Staaten und Kulturen", behauptete Putin. Sie wollten die "Deindustrialisierung" Europas.

Putin sprach auch von Chemiewaffen, die angeblich in der Ukraine hergestellt wurden. "Die USA nutzen den Ukraine-Krieg zu ihrem eigenen Vorteil aus", behauptete der russische Präsident und forderte Russland auf, das "Blatt der Geschichte" zu wenden. "Wir befinden uns auf einem Schlachtfeld für unser Volk, das große historische Russland", sagte Putin.

Experte: "Auffälliger Grad an Absurditäten"

Im provokativen Ton fügte Putin hinzu: "Man braucht Lebensmittel und Energie und nicht gedruckte Dollar und Euro." Im Westen würden die Politiker das Volk auffordern, weniger zu essen und sich weniger zu waschen. "Man kann mit Lügen keine Häuser wärmen", mahnte er. In Russland wolle man außerdem keine "Gender-Ideologie" wie im Westen, wo es anstatt Vater und Mutter "Elternteil 1, 2 und 3" gäbe.

Auch Russland-Experte Alexander Dubowy hat die Rede von Putin und die anschließenden Feierlichkeiten aufmerksam verfolgt. "Inhaltlich haben wir nichts grundsätzlich Neues gehört. Im Grunde begleiten uns ähnliche Aussagen Putins seit über sieben Monaten und teilweise deutlich auch länger", sagt Dubowy.

Auffällig sei jedoch der Grad an Absurditäten und Abstrusitäten gewesen. "Der Rede fehlte komplett ein roter Faden", urteilt er. Eigentlich sei damit zu rechnen gewesen, dass Putin über die annektierten Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja sprechen werde sowie über den Fortgang des Krieges in der Ukraine. "Das war aber nicht vielmehr als nur eine Randnotiz. Der Hauptteil war ausschließlich dem Westen gewidmet", so Dubowy.

An der Speerspitze des globalen Nicht-Westens

Man habe es schon im Vorfeld vermutet, nun wisse man aber mit Sicherheit: "Putin sieht den Krieg in der Ukraine als Kampf gegen den kollektiven Westen und sieht Russland an der Speerspitze der globalen nicht-westlichen Welt", analysiert der Experte. Putin sei sich dessen bewusst gewesen, dass die ganze Welt bei seiner Rede zugeschaut hat.

Zwischen den Zeilen liest Dubowy: "Putin versucht taktisch zu lavieren und hofft, dass der Westen dazu übergeht, die Ukraine zu Verhandlungen zwingen". Moskau habe derzeit nur teilweise Kontrolle über die besetzten Gebiete. "Der Krieg in der Ukraine ist bei Weitem nicht vorbei. Um sein beanspruchtes Staatsgebiet unter Kontrolle zu bekommen, müssten weitere Eroberungen erfolgen", betont Dubowy.

Erneute Drohung mit Atomwaffen

Putin habe die Ukraine aufgefordert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, wolle aber über die vier annektierten Gebiete gar nicht sprechen. "Damit hat er eine politische Eskalation gestartet. Inwieweit eine militärische Eskalation damit einhergeht, bleibt abzuwarten. Die Mobilmachung verläuft alles andere als erfolgreich", sagt der Experte. Auch sei Russlands Armeeführung bislang kaum imstande gewesen, die eingesetzten Soldaten im ausreichenden Ausmaße auszubilden und auszurüsten.

Die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes hält Dubowy für unverändert niedrig. Putin drohe seit dem 24. Februar laufend mit dem Einsatz von Atomwaffen. Zwar hätte er bei seiner aktuellen Rede sehr süffisant darauf hingewiesen, die USA hätten mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen Japan im Zweiten Weltkrieg einen Präzedenzfall geschaffen, Auswirkungen auf die jetzige Situation hat das aber aus Sicht von Dubowy nicht.

"Die USA haben ja nicht erst gestern Atomwaffen eingesetzt, sondern vor vielen Jahrzehnten. Putins Aussagen sind also keine Reaktion auf etwas Neues, sondern einfach nur eine weitere Drohung, die dem Westen Angst machen soll", urteilt Dubowy. Putin könne schließlich jederzeit einen Anlass finden, von Angriffen auf oder einer Bedrohung seines Staatsgebiets zu sprechen, welche den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen würde.

Experte über Russland: "Menschen werden unruhiger"

"Für den Einsatz von Atomwaffen, zumal kleinerer taktischer Nuklearwaffen, braucht Putin keine Präzedenzfälle. Jede Handlung des Westens kann er als unverzeihliche Grenzüberschreitung auslegen", erinnert der Experte. Ganz so einfach sei ein Atomwaffeneinsatz für Russland aber ohnehin nicht. "Dafür gibt es rechtliche und faktische Voraussetzungen", hebt Dubowy hervor.

Rechtlich sei eindeutig, dass der russische Präsident über den Einsatz von Atomwaffen entscheidet. "Er entscheidet, ob eine Bedrohung für die Existenz Russlands besteht", sagt er. Gleichzeitig bedürfe es aber einer faktischen Elitenentscheidung. "Angehörige der Regierung, des Sicherheitsrates, der Präsidialverwaltung, der Wirtschaftselite müssen gemeinsam die Entscheidung treffen, dass Atomwaffen wirklich eingesetzt werden sollen", erklärt Dubowy.

Aktuell sei das kaum vorstellbar. "Der russischen Wirtschaft geht es zunehmend schlechter, die Menschen werden zunehmend unruhiger. Ein Konflikt mit den Eliten ist so ziemlich das Letzte, das Putin derzeit braucht", beobachtet er.

Streit und Uneinigkeit in den russischen Eliten?

Man habe zuletzt widersprüchliche Aussagen aus Russland über den Atomwaffeneinsatz gehört. "So hat beispielsweise der Verteidigungsminister behauptet, Russland könne und dürfe in einem konventionell militärischen Konflikt keine Atomwaffen einsetzen, sondern es bedürfe eines Erstschlages durch einen anderen Staat", sagt Dubowy.

Die russische Nukleardoktrin treffe hier aber andere Aussagen: "Demnach dürfen Atomwaffen auch gegen nicht nukleare Mächte eingesetzt werden, wenn der Präsident es entscheidet", sagt Dubowy. Abseits dieser Voraussetzungen hält er aber allein die Tatsache, dass ein unmittelbar kriegsverantwortlicher russischer Minister es so gesagt hat, für ein Zeichen von Uneinigkeit und Streitigkeit innerhalb der Eliten.

"Putin machte heute keinen übermäßig selbstsicheren Eindruck. Er hat wie jemand gewirkt, der taktisch laviert und sich nicht festlegen möchte", analysiert der Experte. Das sei vermutlich auch der Grund gewesen, warum Putin nur oberflächlich über die Ukraine gesprochen habe.

"Hier sind viele Fragen offengeblieben", kommentiert Dubowy. So beispielsweise innerhalb welcher Grenzen die annektierten Gebiete in die Russische Föderation aufgenommen werden sollen. "Innerhalb der tatsächlich kontrollierten oder innerhalb der gesamten ukrainischen Region? Das ist ein erheblicher Unterschied", sagt Dubowy.

Was der Westen nun tun sollte

Dem Westen empfiehlt der Experte, jedwede Verhaltensänderung zu vermeiden. "Wir haben uns für Sanktionen entschieden und sollten nun daran festhalten. Wenn schon dieser Weg gewählt wurde, muss man ihn konsequent zu Ende gehen und weitere Sanktionen verhängen", meint er.

Moskau setze aktuell darauf, dass der Westen klein beigibt. Diese Genugtuung sei Putin nicht zu gönnen. Auch wenn die kommenden Monate für die westlichen Gesellschaften schwierig werden, Freiheit gebe es niemals zum Nulltarif, so Dubowy.

Angekommen im völkischen Nationalismus

Die Rede sowie die nachfolgenden Feierlichkeiten haben für Dubowy noch einen weiteren Aspekt ans Tageslicht gebracht: "Russland ist mitten im völkischen Nationalismus angekommen". Putin setze auf russische Ethnonationalisten – Personen, die bei den Feierlichkeiten gesprochen hätten, zeugen von dieser beunruhigenden Entwicklung. "Noch Anfang des Jahres war das so nicht vorstellbar", meint Dubowy.

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Der russische Popsänger Shaman, der die Staatshymne sang, sei unter den Nationalisten sehr beliebt. Mit dem Lied "Ich bin ein Russe" katapultierte er sich erst jüngst in die Herzen der nationalistischen Russen. Auch der russische Schauspieler, Medienstar, orthodoxer Priester und Hobbypolitiker Iwan Ochlobystin hielt eine Rede. "Er ist anti-liberal, anti-westlich, erzkonservativ, homophob und forderte die Ausrufung eines 'Heiligen Krieges' gegen die Ukraine und den Westen", meint Dubowy. Dass Putin sich mit einer solchen Person auf einer Bühne zeigt, sei noch im Januar 2022 absolut unvorstellbar gewesen.

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Über den Experten: Dr. Alexander Dubowy ist Politikanalyst und Osteuropa- sowie Russlandexperte. Er studierte Rechtswissenschaften, Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Wien und Moskau. Er forscht zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum.
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