Militärexperte Carlo Masala kritisierte bei "Maybrit Illner" die westliche Furcht, Russland im Ukraine-Krieg provozieren zu können. Die USA-Kritik von Philosoph Julian Nida-Rümelin stieß auf heftigen Widerstand, während Linke-Chef Schirdewan aus der Logik des Krieges ausbrechen will. Derweil machte Grünen-Politikerin Marina Weisband eine unseriöse Andeutung über den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Eine Kritik
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Seit dem Frühjahr tobt nach dem Überfall Russlands inzwischen der blutige Krieg in der Ukraine. In den vergangenen Wochen zielte Moskau vor allem auf die Energieinfrastruktur des Landes, von dem große Teile immer wieder von Stromausfällen und unterbrochener Wärmeversorgung betroffen sind.

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Das war das Thema bei "Maybrit Illner"

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Das waren die Gäste

Alexander Graf Lambsdorff: In den Augen des stellvertretenden Vorsitzenden der FDP-Fraktion ist die Ukraine "zur Zeit nicht bereit für Verhandlungen". Das könne nur funktionieren, wenn keine militärischen Gebietsgewinne mehr möglich sind. Vor allem müsse Russland vor Verhandlungen entscheiden, welches Verhältnis es künftig zu Europa haben will. Wenn das Land weiter von "neo-imperialistischer" Machtpolitik geprägt ist, kann sich der Liberale eine Verständigung nicht vorstellen. Solange ist Lambsdorff Befürworter weiterer Waffenlieferungen. Beim Kampfpanzer Leopard würde er aber keinen "nationalen Alleingang machen wollen".

Martin Schirdewan: Für den Vorsitzenden der Partei "Die Linke" bleibt dieser Krieg "ein Pulverfass. Der kleinste Funken kann ausreichen, dass was passiert." Schirdewan will aus der Logik des Krieges ausbrechen, sprach sich gegen Waffenlieferungen aus und betonte, dass beide Länder Sicherheitsinteressen haben. Ironie der Geschichte: Der Chef der stets USA-kritischen Linkspartei lobte die USA dafür, dass sie im Krieg schon ein paar Mal vehement dem Eindruck widersprochen haben, Kriegspartei zu sein. Etwa nach den jüngsten Angriffen auf russische Militärflughäfen.

Marina Weisband: Die Grünen-Politikerin mit ukrainischen Wurzeln nannte die Angriffe auf jene Flughäfen ein "wichtiges Signal der Hoffnung" für die Menschen in der Ukraine. Es sei gefährlich für Putin, dass der Krieg nun ankommt, so Weisband. Den französischen Präsidenten Emmanuel Macron nannte sie "naiv", weil der das russische Narrativ übernommen habe, dass der Krieg wegen der angeblichen Bedrohung durch die Nato begonnen wurde. Nein, so Weisband energisch, aus "russisch-imperialer Sicht ist die Ukraine eine abtrünnige Provinz". Ihre vage Andeutung, dass Putin womöglich Dreck beziehungsweise Schmutz über Macron in der Hand haben könnte, wirkte etwas unseriös.

Julian Nida-Rümelin: Der Philosoph warb dafür, "eine Perspektive für danach" zu entwickeln. Soll heißen: Beide Seiten müssten erkennen, dass sie Zugeständnisse machen müssen, wenn beide ihre militärischen Ziele nicht erreichen können. Eine Überlegung wäre in seinen Augen ein echtes Referendum auf der russisch besetzten Halbinsel Krim unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Es gehe darum, auch die Sicherheitsinteressen der anderen Seite "ernst zu nehmen", um Stabilität herzustellen. Sicherheit könne nicht gegen, sondern nur mit einer Nuklearmacht organisiert werden.

Nicole Deitelhoff: Die Politikprofessorin lobte US-Präsident Joe Biden, dass er Putin einen Weg zu Verhandlungen aufgezeigt hat, wenn dieser bereit ist, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen. Allerdings ist sie skeptisch, wie nah solche Verhandlungen schon sind. Begründung: Putin habe bisher, was die vier durch Russland annektierten Provinzen der Ukraine betrifft, keinerlei Zugeständnisse gemacht. Er habe keine Strategie, um den "Verhandlungskuchen" zu vergrößern. Anstelle von deutschen Panzerlieferungen sieht Deitelhoff einen viel größeren Bedarf an weiteren Luftabwehrwaffen und Transformatoren, um die Stromausfälle aufzufangen.

Carlo Masala: Der Militärexperte betonte, dass die Ukraine die Angriffe auf russisches Gebiet ohne Hilfe der westlichen Verbündeten ausgeführt haben kann und wunderte sich über die nachlässigen Sicherheitsvorkehrungen auf den russischen Militärflughäfen. Auch Masala ist skeptisch, was baldige Verhandlungen betrifft. Russland schaffe durch die Integration von vier Oblasten in sein Staatsterritorium Fakten, "die de facto es für Selenskyi unmöglich machen, sich auf Verhandlungen einzulassen". Weil es darauf hinauslaufe, dass die Ukraine Gebiete verliere. Wie Weisband kritisierte er, dass Frankreich-Präsident Macron ein falsches Narrativ Russlands übernommen hat. "Das hinterlässt mich alles ein bisschen sprachlos."

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Das war der Moment des Abends

Carlo Masala wunderte sich über die merkwürdige Angst im Westen, Russland provozieren zu können. Etwa durch zu starke Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen. "Wir haben alle Angst vor der Eskalation in diesem Konflikt. Aber der einzige, der ständig in diesem Konflikt eskaliert, ist Russland", führte der Experte aus. "Russland hat in den letzten Tagen 400 Raketen auf die Ukraine abgefeuert, legt dieses Land in Schutt und Asche, aber wir haben Angst vor einer Eskalation durch die Russische Föderation. Das ist ein bisschen paradox, weil da stehen wir mit unser Angst auf der falschen Seite". Angst, so sein Fazit, müsse man um die Ukraine haben.

Das war das Rededuell des Abends

Erwartungsgemäß stieß Julian Nida-Rümelin mit seinen Thesen, wonach die USA im 20. Jahrhundert schon oft mit politisch fragwürdigen Staatslenkern verhandelt hat, auf Widerspruch. "Die Ukraine ist keine Verhandlungsmasse", regte sich Marina Weisband auf. "Sie ist ein souveräner Staat." Nida-Rümelin blieb bei seinem Ansatz der Realpolitik. Man dürfe "nicht so tun, als wäre für alle Zeiten das Streben nach einer stabilen Weltordnung unter Einbeziehung sehr problematischer Akteure unmöglich". Damit war natürlich Wladimir Putin gemeint.

Widerspruch kam prompt von Carlo Masala: "Ich finde diese historische Analogie sehr, sehr problematisch", sagte er. Russland sei heute eine revisionistische Macht, die den Status quo verändern möchte. Anders als die Sowjetunion. Die sei schließlich eine "Status-quo-Macht" gewesen. Nida-Rümelin zählte im Anschluss einige historische Verfehlungen der USA auf. Es gebe auf der Welt "drei revisionistische Supermächte. Die eine steht uns näher als die anderen." Die USA natürlich. Masala und Lambsdorff schüttelten inzwischen fast im Takt mit dem Kopf. "Das ist ahistorisch", warf Masala Nida-Rümelin vor, der das bestritt.

Am Ende einigten sich Masala und Nida-Rümelin immerhin darauf, dass sich die USA mit dem Einmarsch in den Irak "selbst ins Knie geschossen hätten" und der Westen inzwischen nicht mehr "das Sagen" auf der Welt habe.

Das ist das Fazit

Verhandeln oder weiter Waffen in die Ukraine pumpen? Hinter dem Titel der Sendung ("Krieg, Winter, Waffen – ist die Zeit reif für Verhandlungen?") verbarg sich die im Grunde seit Kriegsbeginn geführte Debatte, ob mehr Waffen für Kiew den Krieg tatsächlich beenden oder nur zu seiner Verlängerung sowie mehr Toten und mehr Leid beitragen. Diese taktisch-philosophische Frage blieb auch in dieser Sendung in letzter Konsequenz unbeantwortet. Für beide Szenarien gibt es gute Argumente, die dafür und dagegen sprechen.

Lambsdorff übte sich in Zweckoptimismus. Der FDP-Politiker glaubt nicht, dass die Ukraine die Drohnen, mit denen sie die russischen Flughäfen angriff, gegen zivile Ziele einsetzen will, was den Krieg weiter eskalieren könnte.

Marina Weisband blickte über den ukrainischen Tellerrand hinaus. Putin dürfe in diesem Krieg nichts gewinnen. "Sonst holt sich China Taiwan". Sie befürchtet zudem, dass es im Winter zu einem Scheinfrieden kommen könnte, um das Vorrücken der Ukraine zu bremsen und Russland währenddessen wieder aufrüsten wird. Sie möchte einen echten Frieden mit echten Verhandlungen und Putin zwingen, "sich an sein Wort zu halten". Wie genau das gelingen könnte, blieb ein Stück weit unklar.

Martin Schirdewan immerhin schöpfte Hoffnung aus Macrons China-Reise, auch wenn dessen Ankündigung, dort eine Friedenslösung voranzubringen, in der Runde mehrheitlich als naiv betrachtet wurde. Immerhin bemüht sich der eine oder andere Staatschef intensiv um eine diplomatische Lösung. Allein auf das Pumpen von Waffen in die Ukraine zu setzen, erscheint immer mehr als eindimensionaler Ansatz. Diese Erkenntnis ist in der deutschen Debattenlandschaft inzwischen angekommen.

Die Stimmen einer Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder eines Anton Hofreiter (Grünen), bei denen es manchmal den Anschein hatte, als würden sie die deutschen Waffen gern persönlich in die Ukraine überführen, werden – zumindest gefühlt – leiser. Das muss ein Dreivierteljahr nach Kriegsbeginn nicht das Schlechteste sein.

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