75 Jahre Nato – ein Grund zum Feiern? Nicht für BSW-Politikerin Sahra Wagenknecht, die bei Maybrit Illner mit ihrer Sorge vor einem neuen Wettrüsten und ihrem USA-Bashing polarisierte. Eine Sicherheitsexpertin kritisierte Wagenknecht besonders deutlich.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Thomas Fritz dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Das war das Thema bei "Maybrit Illner"

Die Nato feiert auf dem Jubiläumsgipfel in Washington ihren 75. Geburtstag. Doch der Gipfel steht unter keinem guten Stern. US-Präsident Joe Biden steht im Wahlkampf aufgrund seiner desaströsen Leistung bei der ersten Präsidentschaftsdebatte schwer unter Druck. Sein möglicher Nachfolger, Ex-Präsident Donald Trump, könnte das Bündnis bei seiner Wiederwahl deutlich schwächen. Und Deutschland scheint nicht wirklich in der Lage, eine größere Führungsrolle auszufüllen, sollte der US-Einfluss schwinden.

Das Thema bei Maybrit Illner: "Nato in der Krise – stark genug gegen Putin?"

Das waren die Gäste

  • Sahra Wagenknecht: Die BSW-Parteivorsitzende nannte es eine "Tragödie", dass in den USA die Wahl "zwischen einem Dementen und einem Unzurechnungsfähigen" besteht. Das Land nannte sie eine Weltmacht, die sich im Niedergang befindet. Für Wagenknecht ist das offenbar gefährlicher als Russland, das ja nur ein Zehntel des Verteidigungshaushaltes aller Nato-Länder besitzt, wie sie erklärte. Und deshalb automatisch weniger harmlos? "Wir geben 90 Milliarden für Waffen aus. Das ist ein gewaltiger Aufwuchs, weil wir haben nach Nato-Kriterien vor zehn Jahren nur 34 Milliarden ausgegeben", behauptete die frühere Linken-Politikerin in Bezug auf Deutschland.
  • Omid Nouripour: Der Parteivorsitzende von B'90/Die Grünen bezeichnete es als "Desaster, dass die beiden großen Parteien in den USA dieses Personal aufzubieten haben". Viele Leute würden sich einen Neuanfang mit jüngeren Kandidaten wünschen. Nouripour arbeitete sich in der 60-minütigen Sendung immer wieder an Sahra Wagenknecht ab. Zum Beispiel, weil sie in Frage stellte, ob der Luftangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew tatsächlich durch eine russische Rakete geschah - oder durch Trümmerteile einer (ukrainischen) Flugabwehrrakete. Für den Grünen-Chef war das eine unsägliche Relativierung. "Sagen Sie doch den Hinterbliebenen der Toten von Butscha und Irpin: 'Na, vielleicht seid ihr gefoltert worden, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht'", polterte er.
  • Claudia Major: Für die Sicherheits- und Verteidigungsexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik stehen zwei Fragen im Mittelpunkt der US-Wahl: Wie ist es um die Zukunft der amerikanischen Demokratie bestellt? Und wie geht es weiter mit den USA als internationalem Verbündeten? Major glaubt zwar nicht, dass die USA unter einem Präsidenten Trump aus der Nato austreten werden. "Aber sie können auch so das Bündnis stark schwächen." Für sie steht fest, dass die Europäer die konventionellen militärischen Fähigkeiten der USA und ihre nukleare Abschreckung "nicht ersetzen" können. Das wäre dann ein anderes Bündnis.
  • Ben Hodges: Der frühere Oberkommandierende der US-Landstreitkräfte in Europa sagte, dass Russland es als einziges respektiert, wenn die Nato als Allianz zusammensteht und die Streitkräfte vorbereitet sind. Er lobte, dass die Alliierten endlich die Augen gegenüber der russischen Bedrohung geöffnet hätten. "Wenn die Ukraine scheitert, erhöht sich die Gefahr aus Russland." Den russischen Ansatz, bei neuen Waffenlieferungen für die Ukraine immer wieder mit Vergeltung zu drohen, sah Hodges als gescheitert an. Er verglich das militärische Engagement gegen Moskau mit der Abschreckung im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, der nur deshalb friedlich ausgegangen sei, "weil wir vorbereitet waren".
  • Claus Kleber: Der ehemalige ZDF-Moderator sagte, die Nato sei für Donald Trump "irgendwas zwischen Mafia-Schutzgeld und Security Provider mit sehr hohen Preisen. Und wenn du nicht zahlst, dann kriegst du meine Dienste nicht". Auch Kleber befürwortete die Abschreckungslogik gegenüber Russland, "die niemand mögen kann, die aber funktioniert". Kleber rechtfertigte es, dass die USA ab 2026 erstmals seit Jahrzehnten wieder Langstreckenraketen und Marschflugkörper in Deutschland stationieren wollen, um eine strategische Lücke zu schließen. Denn Moskau hatte in der Exklave Kaliningrad bereits 2016 Iskander-Systeme installiert, die Nuklearsprengköpfe tragen können und 2023 taktische Atomwaffen nach Belarus verlegt.

Das war der Moment des Abends

Es war ein Mann des Militärs, der etwas Sachlichkeit in die hochkochende Debatte einbrachte. Die These, wonach heute ein Krieg zwischen der Nato und Russland wahrscheinlicher sei als in der Kubakrise 1962, nannte Ben Hodges eine "Behauptung, die keinen Sinn ergibt".

Damals sei die Sowjetunion bereit gewesen, sofort zuzuschlagen, und sie sei viel stärker gewesen als das heutige Russland. Im Vergleich zu damals sei außerdem die Nato heute stärker aufgestellt. Die USA und die Sowjetunion standen damals im Streit um die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba am Rande eines Atomkrieges.

Das war das Rededuell des Abends

Sahra Wagenknecht wetterte gegen das derzeitige Aufrüsten und neue Wettrüsten. Je mehr sich Deutschland in den Ukraine-Krieg hineinziehen lasse, je mehr es zur Kriegspartei werde, "umso größer wird die Gefahr, dass Russland uns irgendwann behandelt, wie man eine Kriegspartei behandelt, das heißt wir werden tatsächlich zum Angriffsziel".

Claudia Major reagierte darauf mit einer Breitseite gegen Wagenknecht: "Ich glaube, dass ich ein anderes Verhältnis zu Fakten habe als Sie. Deswegen möchte ich ein paar Dinge klarstellen. Ich glaube, dass der deutsche Verteidigungshaushalt momentan bei 71 Milliarden Euro liegt." Wagenknecht rief dazwischen: "Aber nach Nato-Kriterien 90." Da würden unter anderem auch Gelder für Waffenlieferungen an die Ukraine hinzugerechnet, erklärte sie.

Major störte sich außerdem an dem Wort Rüstung. "Das ist nicht nur Rüstung, sondern alles, was die Bundeswehr macht. Da ist Wartung drin, da ist Ausbildung drin, da ist Unterkunft drin. Wenn man sagt: 71 für Rüstung, dann ist es faktisch falsch. Rüstung ist der falsche Ausdruck, wir sollten von dem Verteidigungshaushalt sprechen."

Später warf sie Wagenknecht sogar vor, dass sie die Debatte mit ihren vermeintlich falsch dargestellten Fakten "vergiftet". Gegenseitiges Kopfschütteln – damit ließen sich die Dialoge der beiden Frauen am besten überschreiben.

So hat sich Maybrit Illner geschlagen

Illner behielt in einer hitzigen Diskussion einen kühlen Kopf. Ihr Talkshow-Zug besaß durchaus das Streitpotenzial, um zu entgleisen, aber die Gastgeberin hielt ihn durch geschicktes Moderationsverhalten auf der Schiene.

Das ist das Fazit

Eine Talkshow der unterhaltsameren Art, in der sich Sahra Wagenknecht aufgrund ihrer umstrittenen Thesen gegen verbales Dauerfeuer von vielen Seiten verteidigen musste. Während Wagenknecht die Unterfinanzierung der Bundeswehr im Haushaltsentwurf für 2024 begrüßen dürfte, hofft Grünen-Chef Nouripour, dass in Nachverhandlungen vielleicht doch noch etwas mehr Geld für die Truppe bereitgestellt werden kann.

Ob das reichen wird, damit Deutschland tatsächlich eine größere Führungsrolle in dem Bündnis, wie von Ben Hodges erhofft, ausfüllen wird, bleibt fraglich. Der Ex-Militär setzt darauf, dass Berlin verstärkt andere Länder zusammenbringt, um die gemeinsamen militärischen Fähigkeiten und die strategische Ausrichtung weiterzuentwickeln.

Ein großer Streitpunkt der Sendung war natürlich auch die Frage, wie Frieden in der Ukraine hergestellt werden kann. Während Sahra Wagenknecht darauf beharrte, dass bislang zu wenig mit Russland verhandelt worden sei – auch weil die USA es vorziehen würden, den Feind auf den Schlachtfeldern der Ukraine militärisch zu schwächen – war Claudia Major ganz anderer Meinung. Es gebe keine Verhandlungen über ein Ende des Krieges, "weil Russland sie ablehnt". Zuletzt hatten russische Offizielle wie Ex-Präsident Medwedew gesagt, dass es langfristig immer noch Russlands Ziel sei, die ganze Ukraine zu erobern.

Zumindest hinterließ der zuletzt angeschlagene US-Präsident Joe Biden auf der großen Nato-Pressekonferenz in der Nacht auf Freitag einen soliden Eindruck und verhinderte damit, dass das Bündnis zum runden Geburtstag einen geschwächten Eindruck machte. Viele Fragezeichen bleiben jedoch. Und sie werden nach den US-Wahlen im November vielleicht noch deutlich größer werden.

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