Was sind die Konsequenzen aus dem Versagen in Afghanistan? Bei "Maischberger" schildern zwei Gäste mit Kontakten ins Land die bedrückende Lage vor Ort. Ein CDU-Mann gesteht zwar Fehler ein, Verantwortung will aber niemand übernehmen – dabei müsse die ganze Regierung zurücktreten, meint Gregor Gysi.

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Ein "Albtraum" in Afghanistan, ein "schändliches Verhalten" der Bundesregierung: Es geht emotional zur Sache in "maischberger. die Woche", wo sich natürlich alles um die Situation in Afghanistan dreht.

Ein "Spiegel"-Journalist vermisst Anstand bei Armin Laschet, Linkspartei-Urgestein Gregor Gysi wettert gegen die Doppelmoral in der deutschen Außenpolitik, und zwei Gäste mit Kontakten nach Afghanistan schildern die bedrückende Lage vor Ort.

Das sind die Gäste bei Sandra Maischberger

"Wir haben das Land im Stich gelassen", sagt CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Die Verantwortung trage die Regierung, "da gibt es nichts zu beschönigen".

Von Rücktritten will Röttgen nichts wissen, anders als der außenpolitische Sprecher der Linkspartei, Gregor Gysi: "Wenn ich Leute benutze, muss ich sie schützen. Es ist menschlich unfassbar und eine so schwere Niederlage der Regierung, dass sie eigentlich zurücktreten müsste."

"Es ist schrecklich, diese Bilder zu sehen", sagt die Ethnologin Shikiba Babori, die in Kabul geboren wurde und immer wieder nach Afghanistan gereist ist in den letzten Jahren. Die Menschen dort, erzählt sie, fühlten sich verraten. "Jetzt, wo es brennt, werden sie allein gelassen."

Veteran Marcus Grotian vom "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte" hofft, dass auf den letzten Drücker noch viele lokale Helfer aus den Fängen der Taliban gerettet werden können: "Aber es ist unsere eigene Schuld, dass wir in einer Position sind, in der man nur noch hoffen kann."

"Was machen die Sicherheitsdienste des Westens eigentlich beruflich?" fragt Markus Feldenkirchen vom "Spiegel". Dass Armin Laschet nun das Motto "2015 darf sich nicht wiederholen" ausgibt, findet er "nicht anständig".

Für Theo Koll, Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios, hat Deutschland seine Werte verraten: "Wir haben nicht dafür gesorgt, dass die Menschen, die das System unterstützt haben, das wir dort etablieren wollten, gerettet werden."

"Welt"-Journalistin Anna Schneider verteidigt Joe Biden, der den Afghanen die Hauptschuld am Siegeszug der Taliban gegeben hatte: "Bei aller Kritik, etwas ist wahr: Es wäre egal gewesen, wann der Abzug erfolgt wäre, jetzt oder in 5 oder 10 Jahren."

Das ist der Moment des Abends

Für die Afghanen, die nun unter den Islamisten leiden werden, ist der Abzug eine Katastrophe, die Shikiba Babori plastisch schildert: Über Jahre hinweg habe sie Familien getroffen, die ihre Töchter in die Schule geschickt haben, trotz aller Gefahren. Die zur Wahl gegangen seien, obwohl die Taliban drohten, ihnen die Finger abzuhacken. "Sie haben es für die Zukunft gemacht." Eine Zukunft, die es jetzt nicht mehr gibt.

Ob die Frauen, mit denen sie noch in Kontakt stehe, fliehen wollten, fragt Maischberger. Babori, leerer Blick, schwache Stimme: "Die, mit denen ich gesprochen haben, trauen sich seit einer Woche nicht mal aus dem Haus."

An Baboris Seite hat Marcus Grotian Platz genommen, der für einige Ortskräfte "Safe Houses" organisiert hat, die durch den blitzartigen Einmarsch der Islamisten fast zu Todesfallen wurden. Die Häuser wurden aufgelöst, an einem klopften zwei Stunden später die Taliban.

In Kabul warteten die ehemaligen Helfer von Bundeswehr und einigen Ministerien auf versprochene Visa-Verfahren, die nie stattgefunden hätten. "Sie sollen wohl Mitte August starten, ich hoffe also in den nächsten Tagen", sagt Grotian und blickt demonstrativ auf seine Uhr.

Nicht nur in diesem Moment äußert sich seine Verzweiflung in bitterem Zynismus – Maischbergers Andeutungen, die Taliban könnten sich geändert haben und gesprächsbereit sein, will er nicht hören: "Hat sich in den letzten 36 Stunden etwas geändert, seit wir das Botschaftspersonal evakuiert haben? (…) Ich hatte den Eindruck, wir wollen da raus, weil wir den Leuten nicht trauen. Dann muss ich nicht diskutieren, ob die, die wir zurückgelassen haben, es doch gar nicht so schlecht haben".

Den Garantien der Taliban, keine Vergeltung zu üben und Frauen ihre Rechte zu belassen, glauben weder Babori noch Grotian. Der Veteran erzählt, was er aus Kandahar gehört hat: "Da werden Kinder genommen und gesagt: 'Zeig' auf die, die mit den Westlern zusammengearbeitet haben.' Das machen die, und danach verschwinden Menschen."

Das ist das Rede-Duell des Abends

Weiter auseinander als Gregor Gysi und Norbert Röttgen kann man kaum liegen, wenn es um die Strategie in Afghanistan geht: Gar nicht erst intervenieren wollten Gysi und seine Linkspartei, Röttgen sprach sich vehement gegen den Abzug aus und plädierte noch nach dem Fall von Kundus für eine neue Militäroffensive.

Der Unterschied zwischen einem Afghanistan mit den Truppen der Allianz und ohne sei jetzt sichtbar, sagt Röttgen: "Das ist nämlich der Unterschied zwischen einem relativ freien Land und einer Taliban-Herrschaft." Für den CDU-Mann ist vor allem Joe Biden mit seiner "fatalen Fehlentscheidung" für die afghanische Katastrophe verantwortlich.

Gysi wird in seiner Replik grundsätzlich: "Der Fehler war der Beginn des Krieges. (…) Wir können Machtverhältnisse nicht herbeizaubern." Natürlich hätte man Afghanistan "ewig besetzen" können, ätzt der Linkspolitiker, und erlaubt sich einen kleinen Seitenhieb auf die scheinheilige Außenpolitik des Westens.

Dann müsse man auch in all die anderen Länder einmarschieren, in denen die Scharia gelte - Katar etwa, oder Saudi-Arabien. "Aber die beliefern wir ja alle mit Waffen."

Röttgen reagiert hörbar gereizt: "Sie waren schon immer gegen den Einsatz der Bundeswehr und damit dafür, dass die Taliban an der Macht bleiben und Al-Qaida seinen Terrorismus praktizieren kann. Das ist die Konsequenz ihrer Ideen."

So hat sich Sandra Maischberger geschlagen

Röttgen, einmal in Fahrt, wirft Gysi auch noch vor, "keine Idee für Afghanistan" zu haben. Ein interessanter Vorwurf an einen Oppositionspolitiker von einem, der seit 2014 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses ist, dessen Partei seit 2005 die Kanzlerin stellt – und der gerade eingestanden hat, dass die Große Koalition in den vergangenen Monaten und ganz akut in den letzten Tagen völlig versagt hat.

Die Gastgeberin lässt Röttgen die oberflächliche Reue nicht so einfach durchgehen. Ob er im Mai denn auch gegen den Antrag gestimmt habe, die Ortskräfte zurückzuholen, will Maischberger wissen. Ja, räumt Röttgen ein, das sei aber nicht der Punkt. Weiter kommt er nicht, Maischberger hakt nach – wie kann es sein, dass Röttgen die Regierung rügt, aber selbst im Bundestag diesen Antrag abgelehnt hat?

Röttgen redet sich heraus, das politische System funktioniere nun mal so: Oppositionsanträge werden eben niedergestimmt, die Regierung müsse von sich aus handeln. Eine Geringschätzung des Bundestags, die einigermaßen verblüfft.

Noch im April hatte Röttgen das Hohelied auf den Parlamentarismus gesungen, als die Abgeordneten mit der Corona-Notbremse quasi die zögernden Länder überstimmte. Aber wie sagte ein etwas erfolgreicherer CDU-Politiker einmal: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?"

Das ist das Ergebnis

Der Punkt geht am Ende an Gregor Gysi, der Maischbergers Vorarbeit nur solide verwandeln muss: "Ich darf Herrn Röttgen daran erinnern, dass wir in einer parlamentarischen Demokratie leben."

Aber in was für einer eigentlich? Die Journalisten in der Runde kommen merklich ins Grübeln. "Wir haben Defizite", drückt es Theo Koll noch höflich aus. "Ich bin fasziniert, was alles nicht funktioniert", ergänzt "Welt"-Chefreporterin Anna Schneider. Sie mache es auch "sprachlos", wenn Angela Merkel die "volle Verantwortung" übernimmt - "das heißt nichts, oder?"

"Spiegel"-Mann Markus Feldenkirchen fallen gleich drei Minister ein, die zurücktreten müssten: Außenminister Heiko Maas, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Innenminister Horst Seehofer.

Wird nur nicht passieren, da sind sich alle drei Kommentatoren im Studio einig. Die deutschen Fehler werden am Hindukusch ausgebadet. Von Afghanen.


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