• Olaf Scholz sagt "Basta" im Streit um die Laufzeit dreier Atomkraftwerke und entscheidet als Bundeskanzler, dass die Meiler bis April 2023 am Netz bleiben sollen.
  • Er beruft sich auf seine Richtlinienkompetenz.
  • Das kommt nicht überall gut an - vor allem bei den an der Regierung beteiligten Grünen.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Denis Huber sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

16 Jahre war Angela Merkel Bundeskanzlerin Deutschlands. 16 Jahre lang kam sie als Regierungschefin aus, ohne von Artikel 65 des Grundgesetzes Gebrauch zu machen, der die sogenannte Richtlinienkompetenz betrifft. Dort heißt es:

"Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung."

Nur einmal, im Sommer 2018, als der erbitterte interne Streit über den Umgang mit Geflüchteten die Unionsparteien CDU und CSU an den Rand der Trennung brachte, drohte Merkel CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer, davon Gebrauch zu machen – und plötzlich war Ruhe im Karton.

Olaf Scholz, seit 8. Dezember 2021 ihr Kanzler-Nachfolger, wollte dieser Merkel-Linie eigentlich treu blieben. Noch am 11. August 2022 sagte Scholz auf der Bundespressekonferenz über die Richtlinienkompetenz: "Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: 'Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende', sondern es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Regierung die wichtigen Entscheidungen trifft, die uns in die Lage versetzen, auf diese Krise zu reagieren."

Brief an Minister: Scholz zieht Richtlinienkompetenz-Karte

Doch am Montagabend (17. Oktober) war diese Scholz-Aussage bereits hinfällig. Offenbar war es ihm einfach zu bunt geworden im festgefahrenen Koalitionsstreit um die Verlängerung des Betriebs dreier Atomkraftwerke. Schon gut zehn Monate nach seinem Amtsantritt zog der Kanzler die Richtlinienkompetenz-Karte.

Er schickte einen Brief (!) inklusive Handlungsaufforderung an die zuständigen Regierungsmitglieder: Steffi Lemke (Grüne), Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz; Robert Habeck Grüne), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz; sowie an Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen.

Inhalt: Er als Bundeskanzler habe unter Berufung auf Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung folgende Entscheidung getroffen: "Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.4.2023 zu ermöglichen."

Er bitte darum, "die entsprechenden Regelungsvorschläge dem Kabinett nun zeitnah vorzulegen", über die dann der Gesetzgeber entscheide.

Rumms! Oder, um im Scholz-Sprech zu bleiben: Wumms!

Grünen-Fraktion kritisiert Machtwort von Scholz

Was aber steht eigentlich genau in der Geschäftsführung der Bundesregierung, auf die sich Scholz beruft? Unter Paragraph 1 heißt es dort:

"Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. Diese sind für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen. In Zweifelsfällen ist die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen."

Die Aktion des Bundeskanzlers kam besonders bei der Bundestagsfraktion der Grünen wenig gut an. Deren Parlamentarische Geschäftsführerin, Irene Mihalic, kritisierte die Berufung auf die Richtlinienkompetenz.

"In der Vergangenheit war nicht klar, wie sich der Kanzler in der Atomfrage eigentlich positioniert", sagte sie den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) vom Dienstag. Jetzt spreche er plötzlich ein Machtwort. "Das zeugt nicht von großer Führungsstärke. Das muss künftig anders werden."

Dies gelte nicht zuletzt auch deshalb, weil Scholz in der Vergangenheit schon häufiger einsame Entscheidungen getroffen habe, sagte Mihalic. Sie verwies dabei auf das Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro. Das dürfe nicht zur Regel werden.

In der Sache habe die Grünen-Fraktion weiter Beratungsbedarf, erklärte die Fraktionsgeschäftsführerin. Sie hob aber hervor, mit der Entscheidung des Kanzlers sei "der Atomausstieg zum 15. April 2023 besiegelt".

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Atomkraft-Gegner Trittin verärgert: Scholz-Brief nicht vom Grundgesetz gedeckt

Besonders ungehalten reagierte Atomkraft-Gegner Jürgen Trittin. "Die Entscheidung ist fachlich nicht gerechtfertigt, sie ist nicht durch den Stresstest gedeckt, sie ist politisch außerordentlich fragwürdig", sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete dem ZDF. "Das wird, glaube ich, noch eine ganz schwierige Operation."

Gegenüber dem RND polterte Trittin außerdem: "Mag sein, dass der Brief von der Geschäftsordnung der Bundesregierung gedeckt ist, vom Grundgesetz ist er es nicht. Danach führen die Minister ihre Ressorts in eigener Verantwortung. Die Geschäftsordnung der Bundesregierung bindet auch nicht die Fraktionen bei der Umsetzung einer Formulierungshilfe für ein Gesetz."

Kippen die Grünen im Bundestag das Gesetz und untergraben so die Autorität von Scholz?

Könnte es also sein, dass die Grünen der (noch nicht vorliegenden) Gesetzesvorlage im Bundestag nicht zustimmen und so das Machtwort des Kanzlers infrage stellen? Es wäre vermutlich der Anfang vom Ende der Ampelkoalition.

Wirtschaftsminister Habeck glaubt nicht, dass es so weit kommen könnte. Dennoch appellierte er am Montagabend in der ARD vorsorglich an das Verantwortungsbewusstsein seiner Partei. Er könne sich ein Veto der Grünen-Fraktion nicht vorstellen: "Weil das Land, Europa sich ja in einer schweren Krise befindet, und in dieser Situation dann die Regierung aufs Spiel zu setzen, scheint mir überhaupt nicht verhältnismäßig zu sein."

Die Grünen-Fraktionsführung will der Fraktion jedenfalls empfehlen, dem "Vorschlag" von Scholz zu folgen. Das sagte die Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann am Dienstag in Berlin. Es gehe darum, eine Kontroverse nach einer verhärteten Lage abzuschließen, sagte sie mit Blick auf einen langen Streit mit der FDP.

Haßelmann stellte allerdings klar, dass die Fraktion sich an die Richtlinienkompetenz von Scholz nicht gebunden fühle, das Parlament insgesamt auch nicht. Eine Richtlinienkompetenz übe man aus gegenüber der Bundesregierung. Die Fraktionsführung werde aber empfehlen, dem "Vorschlag" des Bundeskanzlers zu folgen - auch wenn in der Sache ein Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Emsland fachlich nicht notwendig sei. Die Fraktion habe sich für eine Einsatzreserve der zwei süddeutschen Atomkraftwerke ausgesprochen.

Die Opposition in Gestalt der Union wittert jedoch bereits Morgenluft. Der Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Thorsten Frei, sieht das scholzsche Basta im Atomstreit als Zeichen der Schwäche der Koalition. "Er hat dieses scharfe Schwert gezogen, und rausgekommen ist ein fauler Kompromiss", sagte der CDU-Politiker am Dienstag in Berlin. Er glaube nicht, dass man so etwas mehr als einmal in einer Koalition machen könne. Dies sei "keine starke Nummer" von Scholz gewesen. Offensichtlich sei die Ampel-Koalition auf einer Ebene der Kommunikation angekommen, die keine gute sei.

Verwendete Quellen:

  • Webseite der Bundesregierung
  • Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung
  • Agenturmaterial von dpa und afp
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