Der Überraschungssieg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist für die SPD eine von vielen herbeigesehnte Zäsur. Für die Regierung Merkel ist er eine Bedrohung. Wie reagieren SPD und Union auf das politische Beben?

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Hinter dem versteinerten Lächeln von Olaf Scholz ist der Schock zu ahnen. Pflichtschuldig versichert der große Verlierer der Stichwahl um den SPD-Vorsitz den Siegern seine Solidarität. "Die Entscheidung bedeutet eine neue Parteiführung, und hinter der müssen sich jetzt alle versammeln", sagt Scholz in der Stunde seiner Niederlage im Willy-Brandt-Haus.

Dann verschwinden der Vizekanzler und seine mit ihm unterlegene Teampartnerin Klara Geywitz und überlassen den großen Siegern das Feld. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans strahlen, strecken ihre Daumen in die Höhe. In den nächsten Tagen könnten sie das Ende der großen Koalition einleiten.

45,33 Prozent für Geywitz/Scholz und den Regierungskurs, 53,06 Prozent für Esken/Walter-Borjans und das Abenteuer, bei einer Wahlbeteiligung von 54,09 Prozent - die Abfuhr der Basis für die Vertreter des Establishments fällt noch nicht einmal knapp aus.

Schnell dreht sich alles um drei Fragen: Bleibt die SPD unter Esken und Walter-Borjans in der Koalition? Kann Scholz, der so siegesgewiss schien und gerne als Kanzlerkandidat angetreten wäre, nun überhaupt Finanzminister und Vizekanzler bleiben? Zerreißt es die SPD jetzt?

SPD-Basis: Warum "Weiter so" statt Aufbruch?

Wie hatten doch Abgeordnete, Minister und SPD-Landesfürsten für Scholz und Geywitz geworben - umsonst. Mancher an der Basis mag sich sogar gedacht haben: Wenn die Basis schon das Sagen haben soll - warum wollen die Mächtigen unbedingt, dass einer der Ihren am Ruder bleibt? Einer, der für "Weiter so" statt Neuaufbruch steht?

Zumal sich der Taktiker, der GroKo-Architekt, der versierte Verhandler mit dem blassen Image lange geziert hatte. Es war Scholz, der kurz nach der Flucht von Andrea Nahles von der Partei- und Fraktionsspitze verkündete, der Posten des SPD-Chefs und sein Amt als Finanzminister seien zeitlich nicht zu vereinbaren.

Doch auch andere Minister wollten partout nicht, auch nicht Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil oder Generalsekretär Lars Klingbeil. Nach rund zwei Monaten überlegte es sich Scholz im August anders.

Eine lange Deutschlandtour der am Ende noch sechs Kandidatenduos und zwei Mitgliedervoten später nun das Resultat: Esken und Walter-Borjans geben im Siegestaumel ein Interview nach dem anderen. Oft gleicht es einem Eiertanz, was sie zur GroKo sagen. "Wir müssen dafür sorgen, dass in der Koalition klare Kante gezeigt wird", meint der frühere NRW-Finanzminister. "Wenn damit eine Kanzlerin nicht umgehen kann, ist das ein Risiko für die Koalition."

Und Esken sagt: Ja, massiv steigende Investitionen von 450 bis 500 Milliarden Euro in Schulen, Straßen und Brücken seien nötig. Dem "Mr. Schwarze Null" Scholz dürften sich bei solchen Zahlen die Nackenhaare sträuben. Aber Esken räumt im nächsten Atemzug ein, das andere Duo habe 45 Prozent erhalten. "Das bedeutet ja auch, dass wir auch die Unterstützer dieses Paares und im Übrigen auch die Bundestagsfraktion und die Regierungsmitglieder, die Parteispitze mitnehmen müssen."

AKK gibt sich nach Wahl von Walter-Borjans/Esken gelassen und wenig gesprächsbereit

Walter-Borjans/Esken brauchen einen Plan, wie sie Rücksicht nehmen können auf die führenden Köpfe in der Partei - ohne ihre Fans mit deren Sehnsucht nach etwas Neuem, Anderem zu verprellen. Diese feiern ihren Triumph noch Stunden nach der Verkündung in den sozialen Netzwerken. Wenn das neue Spitzenduo den Drahtseilakt nicht meistert, droht der am Freitag startende Parteitag ein Debakel zu werden.

Turbulent dürfte es schon am Dienstag werden. Von Juso-Chef Kevin Kühnert, dem größten Unterstützer des Siegerduos, bis zu Stephan Weil, der vor den beiden gewarnt hatte, sitzen mehr als drei Dutzend führende Sozialdemokraten im erweiterten Präsidium. Hier soll die Marschrichtung für den Parteitag beraten werden. Wie hoch legt die SPD mit ihrer neuen Führung die Latte für eine Zukunft der GroKo?

Die CDU-Chefin, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, gibt sich am Sonntag auf einer Reise auf den Balkan demonstrativ gelassen - und wenig gesprächsbereit. Viel Spielraum für Neu- oder Nachverhandlungen sieht sie wohl nicht, wenn sie auf "die Geschäftsgrundlage" der Koalition verweist - nämlich auf das, was im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, das anlaufende Vermittlungsverfahren zum Klimaschutzpaket und den Kohleausstieg.

Unklar, was an schwarz-roten Gemeinsamkeiten bleibt

Schon kurz nach Verkündung des überraschenden SPD-Ergebnisses gab es in der Union eine kurze telefonische Absprache - die Linie war aber schon zuvor klar: Füße stillhalten, abwarten bis zu den Beschlüssen des SPD-Parteitags. Entsprechend fielen Statements der Generalsekretäre von CDU und CSU, Paul Ziemiak und Markus Blume, aus.

Vor allem in der Unionsfraktion sind die meisten Abgeordneten strikt dagegen, der SPD nach den Konzessionen bei der Grundrente auch nur einen Schritt weiter entgegen zu kommen. Was bleibt an schwarz-roten Gemeinsamkeiten? Nach dem SPD-Parteitag könnten Fraktionssitzungen und ein Koalitionsausschuss schnell mehr Klarheit bringen.

Sorge gibt es in der Unionsspitze, dass die in Koalitionsdingen als unerfahren geltende neue SPD-Spitze beim Spitzentreffen Kanzlerin Angela Merkel mit Forderungen überzieht. Es käme der Union äußerst ungelegten, sollte das Bündnis in Richtung Neuwahl taumeln. Denn dann könnte die Debatte um die Kanzlerkandidatur schnell wieder aufbrechen.

Auf dem CDU-Parteitag in Leipzig hatten sich die Delegierten eindeutig hinter Kramp-Karrenbauer gestellt und den Ambitionen von Ex-Fraktionschef Friedrich Merz eine Absage erteilt - vorerst.

Für die Christsozialen um ihren unionsübergreifend gefeierten Parteichef Markus Söder ist die Lage in der Koalition zwar aktuell die bequemste. Doch das Gespenst eines drohenden GroKo-Endes ist auch hier spürbar. "Hart bleiben, bloß nicht den Koalitionsvertrag neu verhandeln", heißt es in München.

Doch im selben Atemzug ist auch die Verunsicherung zu spüren - zum Feiern ist dem CSU-Chef am Samstagabend jedenfalls nicht zumute. Während die SPD die Republik überrascht, zieht Söder das heimische Sofa einem Ball in Nürnberg vor.  © dpa

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