Karl Kopp von Pro Asyl ist besorgt, wenn er die bisherigen Vereinbarungen von schwarz-rot zum Thema Flucht und Migration liest. Nachsteuern müsse man an mehreren Punkten, sagt er.

Ein Interview

Es ist seltener geworden, dass Karl Kopp Interviews gibt. Er leitet die Europaabteilung von Pro Asyl. In der Zeit des arabischen Frühlings, als in Deutschland Angela Merkels "Wir schaffen das" populär war, da kamen Kopp und Pro Asyl noch häufiger in der Berichterstattung vor. Damals sei die Erzählung des Gelingens wichtiger gewesen, vermutet Kopp heute.

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Mittlerweile aber dreht sich die Debatte darum, dass Deutschland es eben nicht schafft. Dass zu viele Menschen hier Schutz suchen sollen. Dass die Grenzen dichtgemacht werden müssten.

Solche Vorschläge wurden im Wahlkampf heiß diskutiert. Migration, Flucht und Asyl waren die dominierenden Themen. Auch das Sondierungspapier von Union und SPD liest sich mit diesem Zungenschlag.

Kopp befürchtet: Mit diesen Plänen geht die Bundesrepublik in eine falsche Richtung – noch könne man aber nachsteuern.

Herr Kopp, bereits im Wahlkampf war Migration das Thema. Was bedeutet die Debatte für Menschen, die in diesem Land Schutz suchen?

Karl Kopp ist der Geschäftsführer von Pro Asyl. © Pro Asyl Deutschland/ Shirin Shahidi

Karl Kopp: Der aktuelle Diskurs dreht sich vor allem darum, dichtzumachen. Die künftige Regierung will keine neuen Schutzsuchenden haben, stattdessen sollen auch noch die knappen Aufnahmeprogramme, etwa für Afghanistan, gestoppt werden. Das ist beschämend. Geflüchtete hier bei uns werden durch die Debatten zutiefst verunsichert – das erschwert die Integration.

Es heißt immer, dass Migration besser geordnet werden muss.

In der Debatte geht es vor allem darum, fliehende Menschen abzuschrecken. Deutschland und Europa brauchen Migration und die Fachkräfteeinwanderung muss positiv organisiert werden. Aber das wird nicht funktionieren, wenn wir im Umgang mit Geflüchteten ein hässliches Gesicht zeigen. Wir brauchen eine Willkommenskultur. Anders gesagt: Rassismus ist ein Standortnachteil.

Kann Deutschland nicht beides sein: Hart gegen Geflüchtete und ein offenes Einwanderungsland?

Nein. Wir brauchen eine offene Migrationsgesellschaft. Um es deutlich zu sagen: Der Schutz von bedrohten Menschen gehört zu unserer Demokratie, er gehört zum Fundament der Europäischen Union. Wir können den Flüchtlingsschutz nicht einfach abschaffen, auch wenn die Debatte das gerade suggeriert. Das verstieße sowohl gegen das Grundgesetz als auch gegen EU-Recht und internationales Recht. Schlimm genug, dass der Flüchtlingsschutz seit Jahren immer weiter eingeschränkt und das Recht auf Asyl ausgehöhlt wird. Mich besorgt, dass immer mehr Inhalte der völkischen und antidemokratischen Kräfte von bürgerlichen Parteien übernommen werden.

Die aktuelle Debatte hat sich an den Anschlägen des vergangenen halben Jahres entzündet. Sogar eine linke Partei wie die SPD hat nach Solingen klargestellt: Wir müssen mit härterer Hand durchgreifen.

Jede terroristische Tat ist erschreckend und wir müssen damit umgehen. Dabei gibt es zwei Ebenen: Wir brauchen einen funktionierenden Staat, der in der Lage ist, solche Anschläge zu verhindern – egal ob sie von Islamisten, Rechtsextremen oder psychisch Erkrankten verübt werden.

Und die zweite Ebene?

Gleichzeitig muss mehr im präventiven Bereich passieren: Wir brauchen ein Demokratiefördergesetz, Deradikalisierungsprogramme, psychologische Hilfe – und zwar langfristig angelegt. Leider wurden die Bundesmittel etwa für die psychosoziale Versorgung von Geflüchteten zuletzt drastisch gekürzt. Und was ebenfalls wichtig ist: Wir müssen den Fokus auf die Opfer legen.

Wie meinen Sie das?

Nach solchen grauenhaften Taten erfahren wir sehr viel über die Täter. Die Medien fokussieren sich oft darauf, wer diese Menschen waren, wo sie herkamen, was ihre Motivation sein könnte. Die Opfer spielen nur eine nachgelagerte Rolle. Damit meine ich nicht, dass die Opfer politisiert werden sollten – aber wir müssen mehr um sie trauern. Und natürlich müssen wir analysieren, was schiefgelaufen ist, dass eine solche Tat überhaupt verübt werden konnte. Die Lösung kann aber nicht sein, die Grenzen zu schließen, wie es Friedrich Merz etwa plant.

Geplant sind laut Sondierungspapier unter anderem Zurückweisungen an den Staatsgrenzen, die Beendigung freiwilliger Aufnahmeprogramme und die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten. Was kann das bringen?

Ich fange mit den Zurückweisungen an: Die finden schon heute statt, sind laut Völkerrecht allerdings nicht zulässig. Und auch das EU-Recht und das Schengen-Abkommen sehen geschlossene Grenzen und dauerhafte Kontrollen nicht vor. Hier geht es nicht nur um den Flüchtlingsschutz, sondern um den Kern dessen, was die Europäische Union ausmacht. Diese Fundamente, auf denen die EU ruht, zu demontieren, wäre fatal. Auch bei den sicheren Herkunftsstaaten muss ich einhaken.

Warum?

Jeder Schutzsuchende hat das Recht auf ein ordentliches Asylverfahren. Mit der Ausweitung dieser Liste wird das massiv erschwert. Mit Blick auf Georgien, das 2023 zum sicheren Herkunftsstaat erklärt wurde, wird klar: So sicher ist es dort nicht. Das Putin-freundliche Regime knüppelt Protestbewegungen nieder.

"Ich empfehle, sich weniger von Hysterie leiten zu lassen."

Karl Kopp

Was ist mit den Aufnahmeprogrammen?

Die betreffen häufig besonders vulnerable Schutzsuchende – Menschenrechtsaktivistinnen, Frauen, Kinder. Gleiches gilt für den Familiennachzug. Der ist enorm wichtig, um eine gute Integration zu ermöglichen. Den Familiennachzug für bestimmte Schutzsuchende auszusetzen, bedeutet, dass man Mütter, Väter und Kinder langfristig auseinanderreißt. Und ausgerechnet die wenigen Programme zu streichen, die eine legale Einreise ermöglichen, zwingt die Menschen verstärkt auf unsichere Fluchtrouten. Ich empfehle, sich weniger von Hysterie leiten zu lassen.

Es soll außerdem eine "Rückführungsoffensive" gestartet werden: Ist das einfach so möglich?

Zwei Länder werden explizit genannt: Afghanistan und Syrien. Eine solche Abschiebeoffensive würde bedeuten, das Taliban-Regime zu normalisieren.

Warum?

Um Menschen abzuschieben, müssen diplomatische Beziehungen zu dem Land aufgenommen werden, in das man die Menschen bringen möchte. Ich frage mich, ob die Sondiererinnen und Sondierer wirklich mit einem Regime kooperieren wollen, das Menschenrechte, explizit Frauenrechte, außer Kraft setzt. Das darf man in diesem Zusammenhang weder ignorieren noch verschweigen. Dass dieses Sondierungspapier ausgerechnet am Weltfrauentag veröffentlicht wurde, ist ein fatales Signal.

Wie sieht es mit Abschiebungen nach Syrien aus?

Von dort kommt eine große Gruppe der schutzberechtigten Menschen in Deutschland. Im Papier steht, dass zunächst mit Straftätern und Gefährdern begonnen werden soll – ich befürchte, dass weitreichende Abschiebungen auch anderer Menschen folgen werden. In der Community sorgt diese Botschaft für Angst und Schrecken. Sie zeigt ihnen: Ihr gehört nicht dazu. Das beschäftigt auch Menschen mit sicherem Aufenthaltsstatus oder frühere Schutzsuchende, die mittlerweile eingebürgert sind. Das ganze Papier atmet den Geist der Abwehr.

In einem Nebensatz bringen die künftigen Koalitionäre Schutzsuchende in die Bringschuld: "Aus dem 'Amtsermittlungsgrundsatz' muss im Asylrecht der 'Beibringungsgrundsatz' werden." Was bedeutet das für die Menschen?

Es bedeutet, dass Asylsuchende selbst alle nötigen Beweise für ihren Schutzanspruch vorlegen müssen. Dieser kleine Satz könnte das Asylrecht auf den Kopf stellen und kann dazu führen, dass die Zahl der positiven Asylbescheide massiv abnimmt – weil ein Asylverfahren eine hoch komplizierte Angelegenheit ist. Entsprechend gibt es auch verfassungs- und europarechtliche Bedenken gegen diesen Vorschlag. Gerade mit Blick auf frauenspezifische Gewalt wird das die ohnehin prekäre Situation weiter verschärfen. Juristen wie Thomas Oberhäuser vom Deutschen Anwaltverein fragen deshalb zu Recht: "Sollte denn eine Frau etwa nach Afghanistan zurückgeschickt werden, weil sie ihre Situation im Verfahren nicht ordentlich beschreiben kann?"

Der Amtsermittlungs- und der Beibringungsgrundsatz

  • Bislang wurde in Asylverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz angewendet. Dieser kommt aus dem Strafrecht und bedeutet, dass Behörden verpflichtet sind, alle Informationen zu berücksichtigen, die für das Verfahren relevant sind – und entsprechende Ermittlungen anzustellen.
  • Der Beibringungsgrundsatz hingegen kommt aus dem Zivilrecht. Schutzsuchende könnten so in die Bringschuld gebracht werden. Der Grundsatz bedeutet nämlich, dass die Parteien selbst entscheiden, was Gegenstand des Verfahrens sein wird. Es werden also nur die Punkte verhandelt, die in das Verfahren eingebracht werden.

Nun handelt es sich bei dem Papier zunächst um die Sondierungsergebnisse. Der Koalitionsvertrag wird gerade verhandelt. Wo muss aus Ihrer Sicht noch einmal nachgearbeitet werden?

Fast überall. Wir haben über viele Punkte gesprochen, die das Asylrecht gravierend verschärfen würden – wenn sie überhaupt rechtmäßig sind. Positives lässt sich derweil bis auf die Förderung der Integration wenig finden. Ich würde mir eine andere Tonart wünschen: weg von Abschottung, hin zu Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und besonnener Politik. Wir können unseren Kontinent nicht hermetisch abriegeln. Ein gutes erstes Signal wäre es, die Menschenwürde zu achten. Wichtig wäre außerdem, Haupt- und Ehrenamtliche der Zivilgesellschaft besser zu unterstützen, statt Gelder zu kürzen. Das gilt auch für die Kommunen, die wesentlich an der Integration beteiligt sind.

Über den Gesprächspartner

  • Karl Kopp ist Geschäftsführer von Pro Asyl. Er vertritt die Organisation im Europäischen Flüchtlingsrat und leitet die Europa Abteilung. Dabei ist er unter anderem verantwortlich für die Pressearbeit im europäischen Kontext und die Vernetzung mit anderen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen. Kopp setzt sich bereits seit 1992 bei Pro Asyl für die Rechte von Geflüchteten und Migranten ein. Der Soziologe hat ein Buch mit dem Titel "Asyl" veröffentlicht.