Die Aussichten für die deutsche Wirtschaft sind schlecht. Mit einem Zwölf-Punkte-Programm will die FDP die Wende schaffen – und stößt bei ihren Koalitionspartnern auf wenig Gegenliebe. Im Interview verteidigt FDP-Vizevorsitzender Johannes Vogel den Vorstoß seiner Partei.
Wenn Johannes Vogel dieser Tage gute Laune hat, muss es wohl am Fußball liegen. Sein Lieblingsverein, Bayer Leverkusen, steht uneinholbar auf dem ersten Platz der Bundesliga. Über die Performance seiner Partei dürfte der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende weniger Grund zur Freude haben – die Liberalen stehen in Umfragen bei fünf Prozent.
Vor dem Parteitag der FDP an diesem Wochenende in Berlin schalten die Gelben daher auf Angriff. Mit einem Zwölf-Punkte-Programm für eine "Wirtschaftswende" will man das eigene Profil schärfen. Die Forderungen haben es in sich: Reform des Bürgergelds, Streichung des Solidaritätszuschlags und Abschaffung der Rente mit 63. Bei den Partnern in der Ampel-Koalition löst das Irritationen aus.
"Ich finde es völlig normal, dass drei eigenständige Parteien in einer gemeinsamen Koalition auch erstmal selbst Vorschläge machen", sagt dagegen Johannes Vogel im Interview. Nun seien SPD und Grüne an der Reihe, ihre wirtschaftspolitischen Ideen einzubringen. "Es ist jetzt Aufgabe aller Koalitionspartner, das Ruder herumzureißen."
Herr Vogel, die FDP hat ein Papier zur "Wirtschaftswende" vorgelegt, das lauter Forderungen enthält, die mit SPD und Grünen nicht zu machen sind. Wollen Sie den Koalitionsbruch?
Johannes Vogel: Wir wollen, dass Deutschland wirtschaftlich wieder vorankommt. Wir meinen es mit der Wirtschaftswende sehr ernst, denn es geht um unser Land. Deswegen ist meine Frage an die Koalitionspartner, was denn ihre Vorschläge sind. Nichts tun ist nach meiner Überzeugung keine Option.
Markus Söder von der CSU sprach von einer "Scheidungsurkunde" und Helge Lindh von der SPD von einer "Austrittserklärung".
Von der SPD habe ich auch andere Stimmen gehört. Dennoch muss sie sich fragen, was sie denn selbst vorschlagen will. Nur Meckern reicht nicht. Sowohl der gelbe Finanzminister als auch der grüne Wirtschaftsminister sind sich einig bei der Größe der Herausforderung. Selbst Robert Habeck sagt, dass unser Land aktuell nicht wettbewerbsfähig ist, und die Zahlen bestätigen das eindeutig. Das zeigt doch, dass die Koalition über sich und bisher Geplantes hinauswachsen muss.
Wenn Einigkeit in der Diagnose besteht, warum hat man dann kein gemeinsames Papier zur Wirtschaftswende zustande gebracht?
Das Ziel muss sein, am Ende ein gemeinsames Maßnahmen-Paket hinzubekommen. Darüber wird in der Regierung gesprochen. Aber ich finde es völlig normal, wenn drei eigenständige Parteien, auch erstmal eigenständig Vorschläge machen.
Wäre es nicht trotzdem besser, erst an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn man einen gemeinsamen Plan hat?
Vielleicht ist das eine neue Normalität, die in dieser Koalition das erste Mal auftritt, aber nicht mehr weggehen wird. Wir haben ein Parteiensystem, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft zu Bündnissen aus Parteien mit sehr weit auseinander liegenden Positionen führen wird. Ich halte es für unrealistisch, dass unter diesen Bedingungen allein hinter den Kulissen debattiert wird und dann eine gemeinsame Position herauskommt, wo der jeweilige Beitrag der Parteien nicht mehr erkennbar ist. Wir haben es hier mit einer Veränderung unserer politischen Kultur zu tun. Da muss man auch nicht immer sofort jede Diskussion als Streit bezeichnen. Auch in einer Koalition kann der Parteien-Wettbewerb um die beste Idee sichtbar sein – wenn am Ende das gemeinsame Ergebnis stimmt.
Die SPD hat postwendend Gegenargumente zu jedem Ihrer zwölf Punkte veröffentlicht. Auf Papier folgt Gegenpapier: Sieht so diese neue Normalität aus?
Ich stelle mich jedem Gegenargument und halte aus Überzeugung dagegen. Am Ende dieses Prozesses muss aber ein Wurf stehen, der so groß ist, dass er das Land überrascht und das Ruder herumreißt für eine Wirtschaftswende.
Immer wieder werfen Sie SPD und Grünen vor, Dinge zu fordern, die nicht im Koalitionsvertrag stehen. Jetzt tun Sie es selbst.
Der Koalitionsvertrag definiert unsere Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss aber immer die Frage erlaubt sein, ob das Vereinbarte noch in die Zeit passt. Ein Beispiel: Wir haben ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr aufgelegt – davon stand nichts im Koalitionsvertrag. Es war aber in der Sache richtig. Und genauso notwendig ist jetzt eine Wirtschaftswende. Der Status Quo genügt nicht. Diese Koalition hat etwa mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit Punktesystem oder der Planungsbeschleunigung von Straßen und Schienen zentrale Reformen für mehr Wohlstand angepackt – aber das reicht eben noch nicht.
Welcher der 12 Punkte ist Ihnen am wichtigsten?
Es geht nicht um einzelne Forderungen. Der Parteitag wird am Wochenende ein Gesamtkonzept beschließen, das ist unser Angebot an die Koalition. Fakt ist: Die Steuer-, Abgaben- und Bürokratielast für Unternehmen, Selbstständige und Beschäftigte ist zu hoch, die Sozialsysteme sind nicht ausreichend auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Wir müssen jetzt in Jahrzehnten denken, nicht in Legislaturperioden.
Erst kürzlich hat sich die Ampel auf ein Rentenpaket geeinigt. Jetzt legt die FDP nach und fordert das Aus für die Rente mit 63.
Die Rente mit 63 führt dazu, dass wir dem Arbeitsmarkt Fachkräfte entziehen, die dringend benötigt werden. Das sieht übrigens auch die frühere SPD-Vorsitzende und heutige Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, so. Sie hat recht. Eine solche Regelung passt nicht mehr in die Zeit. Die moderne Lösung wäre ein vollständig flexibler Renteneintritt mit Anreizen für längeres Arbeiten wie in Skandinavien.
Die SPD sieht bei der Rente keinen Reformbedarf.
Schon heute fließen über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt in die Rente. Das ist ein Viertel des Gesamthaushalts. Dieser Anteil wird weiter steigen, wenn wir nichts tun. Das Geld fehlt dann an anderer Stelle, etwa für Verteidigung. Hinzu kommt: Auch die Rentenbeiträge für die arbeitende Mitte und die Jüngeren steigen. Und zugleich sinkt das Rentenniveau. Hieran sehen Sie: Es muss sich etwas ändern.
Die FDP wollte eine individuelle Aktienrente, herausgekommen in der Ampel ist das Generationenkapital, das lediglich die Beitragssätze stabilisieren soll. Ein Flop?
Im Gegenteil. Das Generationenkapital ist eine historische Weichenstellung. Das sage ich auch angesichts der eher zurückhaltend ausgeprägten Aktienkultur in Deutschland. Wir bauen jetzt mit 200 Milliarden Euro am Kapitalmarkt ein zusätzliches Standbein für die Rente. Ich sage aber auch: Wenn wir wollen, dass das Rentenniveau wieder steigt, muss mehr kommen, denn das schwedische Modell leistet genau das. Die FDP will die Aktienrente daher ausbauen und dem schwedischen Vorbild so schnell wie möglich so nah wie möglich kommen – auch und gerade mit individuellen Ansprüchen.
Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen erfordern Kompromissbereitschaft in der Ampel. Wir hätten einen Vorschlag: Die FDP bekommt die Abschaffung des Solis und gibt dafür bei der Schuldenbremse nach.
Die Schuldenbremse hat Verfassungsrang. Außerdem ist sie ein Gebot der Generationengerechtigkeit. Die Frage muss erlaubt sein: Sind es wirklich staatliche Ausgabenprogramme, die in der aktuellen wirtschaftlichen Situation fehlen? Ich glaube nein. Der Bund investiert so viel wie noch nie. Was wir brauchen, ist Angebotspolitik – also weniger Fesseln für Unternehmen.
Die FDP steht mit dieser Position allein. Auch angesehene Stimmen aus dem Ökonomenlager – von den Wirtschaftsweisen bis hin zu den großen Instituten – fordern eine Reform der Schuldenbremse.
Da muss ich widersprechen. Der Internationale Währungsfonds (IWF), um nur ein Beispiel zu nennen, empfiehlt gerade in Zeiten globaler Inflation, die Haushalte zu konsolidieren. Das tun wir. Unter einem FDP-Finanzminister ist die Schuldenquote von 69 auf 64 Prozent gesunken. Die Schuldenbremse zwingt die Politik, Prioritäten zu setzen – gut so!
Nehmen Sie bei SPD und Grünen irgendeine Verhandlungsbereitschaft wahr?
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass die Grünen die Vorschläge der FDP nicht öffentlich kritisiert haben. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass der Bundeskanzler mit der aktuellen, wirtschaftlichen Bilanz in den Wahlkampf gehen will. Es ist jetzt Aufgabe aller Koalitionspartner, das Ruder herumzureißen.
Viel Zeit ist dafür nicht mehr. Wann müssen die ersten Schritte gemacht werden?
Wir müssen bis zum Sommer Klarheit haben, damit wir noch in diesem Jahr die Gesetzgebung für eine mutige Reform einleiten können, die der Größe der Aufgabe gerecht wird. Deshalb halte ich es für richtig, die Diskussion über den Bundeshaushalt 2025 und die Diskussion über die Wirtschaftswende zusammenzuführen.
Und wenn die Koalitionspartner nicht mitmachen?
Um es mit den Worten meiner Parteifreundin Marie-Agnes Strack-Zimmermann zu sagen: Beim Motorradfahren schaut man nicht auf die Leitplanke, wenn man um die Kurve kommen will. Ich glaube, diese Koalition hat das Potenzial für einen großen Wurf. Das muss sie für die Wirtschaftswende nutzen.
Über den Gesprächspartner
- Johannes Vogel ist 1982 im nordrhein-westfälischen Wermelskirchen geboren, wo er dieselbe Schule wie sein späterer Weggefährte und heutige FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner besuchte. Vogel war als Jugendlicher kurz Mitglied der Grünen Jugend, ist seit 1998 jedoch bei der FDP aktiv. Von 2005 bis 2010 war er Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen. Seit 2007 ist er Vorstandsmitglied der FDP. Vogel sitzt im Deutschen Bundestag, wo er Erster Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion ist.
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