Die Entwicklungshilfe stand in diesem Jahr unter politischem Beschuss. Zu Recht? Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) spricht im Interview über deutsche Intertageessen, afrikanische Hilfsbereitschaft und ihre Sympathien für eine stärkere Besteuerung der Superreichen.

Ein Interview

Von ihrem Büro aus kann Svenja Schulze über die Dächer Berlins schauen. Als Bundesentwicklungsministerin muss ihr Blick aber noch viel weiter gehen: zu den Krisen und Konflikten auf anderen Kontinenten, zu den Ländern, in denen Deutschland hilft aber auch wirtschaftliche Interessen verfolgt.

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In diesem Jahr stand das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unter politischem Beschuss: Der frühere Bundesfinanzminister Christian Lindner wollte dem Haus die Mittel deutlich kürzen, seine FDP das BMZ als eigenständiges Ministerium am liebsten abschaffen eine Idee, die auch in der Bevölkerung auf Zustimmung trifft.

Im Interview mit unserer Redaktion macht die SPD-Politikerin Schulze deutlich: Aus ihrer Sicht muss das Ministerium auf jeden Fall erhalten bleiben.

Frau Schulze, wozu braucht es heute noch ein Bundesentwicklungsministerium?

Svenja Schulze: Das Entwicklungsministerium hat es Deutschland ermöglicht, über Jahrzehnte Partnerschaften in der ganzen Welt aufzubauen. Auf solche Partnerschaften sind wir mehr als andere angewiesen. Jeder zweite Euro wird bei uns im Export verdient.

Viele Hungerkatastrophen, Konflikte und Krisen hat Ihr Haus allerdings nicht verhindert.

Nun, man sieht nie, was man alles verhindert hat. Es gab natürlich auch Rückschläge, etwa durch die Coronakrise und durch den Angriff Russlands auf die Ukraine, eine Kornkammer der Welt. Insgesamt hat die Entwicklungszusammenarbeit das Leben der Menschen aber deutlich verbessert. Durch den Aufbau von Gesundheitssystemen sterben deutlich weniger Menschen an Krankheiten. Der Hunger in der Welt ist zurückgegangen, und mehr Menschen haben Zugang zu Wasser.

Rund 11 Milliarden Euro pro Jahr betrug der Etat Ihres Ministeriums zuletzt. Ist das wirklich gut investiertes Geld? Schließlich gibt es auch im Inland einen enormen Bedarf.

Auf jeden Fall. Das ist einerseits eine Frage des Anstands: Wir wollen andere Menschen auf der Welt nicht verhungern lassen. Andererseits dient all das auch unseren eigenen Interessen. Gerade jetzt, in der angespannten Lage weltweit, sind wir auf Partnerschaften angewiesen. Unser deutsches Wohlstandsmodell beruht auf belastbaren internationalen Beziehungen, das müssen wir uns bewahren. Großbritannien hatte seine Entwicklungszusammenarbeit massiv zurückgefahren. Die Folge: Das Land hat global an Einfluss verloren.

Eine häufig übersehene humanitäre Katastrophe spielt sich derzeit im Sudan ab, wo ein Krieg zwischen Militärgruppen mehrere Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hat. Sie haben vor Kurzem das Nachbarland Tschad besucht. Wie geht es den Menschen vor Ort?

Man wird demütig, wenn man die Umstände dort erlebt. Der Tschad ist ein sehr kleines Land, es hat nur etwas mehr Einwohner als Nordrhein-Westfalen. Innerhalb kürzester Zeit haben die Menschen dort 700.000 Flüchtlinge aufgenommen. Was wir gesehen haben, war unendliches Leid. Überwiegend kommen dort Frauen mit Kindern an, die schlimmste Gewalterfahrungen gemacht haben. Und die Menschen im Tschad teilen mit diesen Menschen das Wenige, das sie selbst haben.

Das kann man sich in Deutschland kaum vorstellen. Gibt es im Tschad keinerlei Ressentiments gegenüber den Migranten?

Der tschadische Finanzminister hat die Situation gut auf den Punkt gebracht: Im Tschad gibt es in jeder Familie Fluchterfahrungen. Das ist in Deutschland eigentlich ähnlich, schließlich haben auch hier viele Menschen Vorfahren, die geflohen sind. Im Tschad ist diese Erfahrung aber viel akuter: Sie wissen, wie es Menschen in Not geht. Sie haben keine Zäune hochgezogen und Grenzen gesichert, sondern überlegen, wie sie die Flüchtlinge aufnehmen und integrieren können.

"Je mehr Russland in Afrika an Einfluss gewinnt, desto schwieriger wird die Lage für Europa."

Svenja Schulze

In der Sahelzone im Norden Afrikas ist auch Russland sehr aktiv. Muss sich der Westen jetzt mehr um diese Länder bemühen?

Auf der Welt gibt es einige, die die wachsende Rolle des afrikanischen Kontinents erkennen. Der Tschad ist noch nicht so stark auf Russland fokussiert wie andere Länder dort. Er lässt sich nicht festlegen, sondern will sich seine Partner selbst aussuchen. Die Welt verändert sich, und wir sind gut beraten, in Partnerschaften zu investieren. Je mehr Russland in Afrika an Einfluss gewinnt, desto schwieriger wird die Lage für Europa – von der Migrationspolitik bis zur Rohstoffversorgung und anderen Handelsfragen.

Das heißt, wenn sich die Region von Europa abwendet, würde für uns ein wichtiger Markt wegfallen.

Ich würde es anders ausdrücken: Wir engagieren uns dort, weil wir eine humanitäre Verpflichtung dazu haben, und weil wir in Europa auf faire Partnerschaften mit dem afrikanischen Kontinent angewiesen sind. Die Rohstoffe, die wir für unsere Wirtschaft brauchen, kommen häufig aus Afrika. Auch für den Arbeitsmarkt könnte eine langfristige Partnerschaft sinnvoll sein: Unsere Gesellschaft altert, dort ist die Bevölkerung sehr jung und oft schon viel digitaler unterwegs als bei uns.

Auch im Nahen Osten herrscht Krieg. Der Gazastreifen gleicht mittlerweile einer Trümmerwüste. Welche Rolle kann Deutschland beim Wiederaufbau spielen?

In Gaza selbst können wir zurzeit keine langfristigen Entwicklungsprojekte durchführen. Das haben wir vor dem Angriff der Hamas auf Israel getan, in der jetzigen Krisensituation ist das nicht möglich. Es leben aber sehr viele Menschen in den palästinensischen Gebieten, etwa im Westjordanland, die ihre Jobs in Israel verloren haben. Die brauchen eine Perspektive. Da sind wir weiterhin sehr aktiv und helfen, Stabilität zu erhalten und Verwaltungsstrukturen aufzubauen.

Ein schwerer Spagat: Einerseits müssen Sie solidarisch mit Israel sein, andererseits wollen Sie die palästinensischen Gebiete stabilisieren. Geht wirklich beides gleichzeitig?

Beides ist absolut notwendig und auch gar kein Widerspruch. Gerade weil wir uns als Deutsche für die Sicherheit Israels verantwortlich fühlen, engagieren wir uns so sehr für die Stabilität in den Palästinensischen Gebieten. Ich bin davon überzeugt: Am Ende muss es eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Beide Seiten können nur in Frieden leben, wenn es auch die jeweils andere tut.

"Ich kann nicht tatenlos dabei zuschauen, dass die letzten Demokratien auch noch verschwinden."

Svenja Schulze

Sie werben für die Einführung einer weltweiten Milliardärssteuer: Die Superreichen sollen für die Armen zahlen. Das klingt zu schön, um jemals Wahrheit werden zu können.

Sollte es aber. Die Kluft zwischen Ultrareichen und dem Rest der Gesellschaft wächst rasant: Seit Beginn der Corona-Pandemie haben die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen mehr als verdoppelt. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung ist dagegen noch ärmer geworden. Es gibt übrigens nicht nur bei uns, sondern auch in einigen Entwicklungsländern sehr reiche Menschen, die noch nicht ihren fairen Beitrag zum Gemeinwesen leisten. Deswegen ist es wichtig, auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern gerechte Steuersysteme aufzubauen. Eine Steuer für Milliardäre kann ein wichtiger Teil davon sein.

Wie genau stellen Sie sich die vor?

Bislang ist es so, dass eine Lehrerin oder eine Reinigungskraft fast überall auf der Welt prozentual deutlich mehr Steuern zahlt als die Milliardäre dieser Welt. Das liegt daran, dass Ultrareiche kaum Einkommensteuer zahlen, weil ihre Vermögen aus Anlagen oder Firmenanteilen bestehen, die deutlich weniger besteuert werden. Brasilien hat nun vorgeschlagen, dass die rund 3.000 Milliardäre weltweit mindestens zwei Prozent ihres Vermögens pro Jahr als Steuern abführen. Das ist immer noch deutlich weniger als ihr Vermögen jedes Jahr wächst. Wenn diese Milliardärssteuer, weltweit abgestimmt, gilt, könnte niemand mehr mit seinem Geld in Steueroasen ausweichen. Der französische Ökonom Gabriel Zucman rechnet mit Einnahmen von bis zu 250 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Das ist viel Geld, das in die Bildung von Kindern, Pandemieprävention oder den Klimaschutz investiert werden könnte.

Klingt nach einer Illusion, dass da alle Staaten mitziehen würden.

Das hat man über die globale Mindeststeuer für Unternehmen auch gedacht. Und dann hat Olaf Scholz sie in der G20 durchgesetzt, und jetzt gibt es sie. Anfang des Jahres hieß es noch: Eine Milliardärssteuer braucht man gar nicht erst zu versuchen. Und jetzt haben die 20 größten Industrie- und Schwellenländer auf ihrem Gipfel in Brasilien tatsächlich beschlossen, zusammen an einer wirksamen Besteuerung von Ultrareichen zu arbeiten. Ja, so etwas geht nicht von heute auf morgen – aber wenn man nicht anfängt, erreicht man es nie.

Ein Großteil der Menschen weltweit lebt nicht in demokratischen Systemen. Ist der Versuch, eine gerechtere Welt zu schaffen, nicht ein Kampf gegen Windmühlen?

Wir müssen weiter daran arbeiten. Ich werde es jedenfalls machen. Ich kann nicht tatenlos dabei zuschauen, dass die letzten Demokratien auch noch verschwinden. Die meisten Menschen leben nicht in demokratischen Strukturen und genau das motiviert mich. Es lohnt sich dafür zu arbeiten, dass sich das Leben dieser Menschen verbessert und sie über ihre Zukunft mitbestimmen dürfen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Svenja Schulze wurde in Düsseldorf geboren und hat Germanistik und Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum studiert. 2010 bis 2017 war die SPD-Politikerin Wissenschaftsministerin in Nordrhein-Westfalen. 2018 bis 2021 führte sie das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Danach übernahm die Münsteranerin das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
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