Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wächst die Angst vor einem Einsatz von Atomwaffen. Um welche Waffen geht es dabei genau? Und warum haben die Nuklearmächte sie vor allem, um sie niemals einsetzen zu müssen?
In der Geschichte der Menschheit war der 6. August 1945 eine Zäsur. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs warfen die USA eine Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima ab, drei Tage später folgte der Abwurf über Nagasaki. 100.000 Menschen starben laut Bonn International Centre for Conflict Studies noch an diesen beiden Tagen, weitere 100.000 bis 150.000 in den vier Monaten danach. Eine grausame Demonstration, wozu die Menschheit offenbar in der Lage ist: ihrer eigenen Zerstörung.
Seitdem ist der Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen ein Tabu. Doch noch immer sind sie in der Welt. Und seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine tauchen sie auch wieder regelmäßig in den Schlagzeilen auf. Russlands Präsident Wladimir Putin hat zuletzt vor einem "Nuklearkonflikt" in Europa gewarnt. Vor rund einem Jahr hat er taktische Atomwaffen in Belarus stationieren lassen und damit Europa ins Visier genommen. Im Mai kündigte die russische Regierung sogar Übungen in der Nähe der Grenze zur Ukraine an.
Im Schatten dieser Bedrohung diskutiert auch Europa über das Thema: Wenn die USA den Kontinent nicht mehr um jeden Preis verteidigen, braucht dann auch Europa eine Bombe? Oder reichen die britischen und französischen Atomwaffen zur Abschreckung aus?
Was sind Atomwaffen?
Für die Herstellung von Atomwaffen (auch Kern- oder Nuklearwaffen genannt) werden die radioaktiven Stoffe Plutonium oder angereichertes Uran verwendet. Ihre Zerstörungskraft beruht auf Kernspaltung oder Kernfusion: Das Auseinanderbrechen beziehungsweise das Fusionieren von Atomkernen erzeugt eine Kettenreaktion, die in extrem kurzer Zeit extrem viel Energie freisetzt. So entstehen enorme Hitze und eine massive Druckwelle. Zudem wird radioaktive Strahlung freigesetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann zunächst eine Zeit des Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion: Die Zahl der nuklearen Sprengköpfe stieg in den 80er-Jahren auf mehr als 70.000. Gleichzeitig war den Regierungen immer auch bewusst, dass die Menschheit damit das Mittel zu ihrer eigenen Auslöschung in der Hand hatte.
Bereits 1970 trat daher der Atomwaffensperrvertrag, auch Nichtverbreitungsvertrag, in Kraft. Er besagt: Staaten, die den Vertrag unterzeichnen, dürfen keine Atomwaffen entwickeln oder erwerben. Die fünf Staaten, die zu diesem Zeitpunkt bereits nukleare Sprengköpfe besaßen, verpflichteten sich wiederum, ihre Bestände komplett zu beseitigen – allerdings ohne eine Zeitangabe.
Dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri zufolge gab es zu Beginn 2023 weltweit insgesamt immer noch 12.512 nukleare Sprengköpfe, von denen 3.844 sofort einsatzbereit waren. Die Waffen befinden sich einerseits in der Kontrolle der fünf offiziellen Atommächte zum Zeitpunkt des Abschlusses des Sperrvertrags: USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien. Hinzu kommen vier weitere Staaten, die Atomwaffen besitzen: Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea.
Allerdings sind die Sprengköpfe sehr ungleich verteilt. Die mit weitem Abstand größten Arsenale hatten im Januar 2023 Russland (4.489 sofort oder nach Vorbereitungen einsatzbereite Sprengköpfe) und die USA (3.708). Die Arsenale von Frankreich (290) und Großbritannien (225) erscheinen im Vergleich dazu sehr klein.
Nuklearwaffen in Deutschland
Auch in Deutschland befinden sich Atomwaffen, nämlich auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Allerdings ist in verschiedenen Medienberichten von bis zu 20 taktischen Atomwaffen des Typs B61-3/4 die Rede. Dem Online-Lexikon "Atomwaffen A-Z" zufolge hat dieser Bombentyp eine Sprengkraft von maximal 170 Kilotonnen TNT. Das ist das 13-Fache der in Hiroshima eingesetzten Bombe "Little Boy".
Auch wenn diese Waffen auf deutschem Gebiet lagern: Deutschland könnte im Ernstfall nicht über sie verfügen. Es handelt sich um Waffen der USA, daher müsste den Befehl für ihren Einsatz der US-Präsident geben. Allerdings könnten Bundeswehr-Soldaten sie mit Flugzeugen ans Ziel bringen. Man spricht daher von der "nuklearen Teilhabe" Deutschlands.
Strategische und taktische Atomwaffen – wo liegt der Unterschied?
In Diskussionen zum Thema fallen immer wieder zwei Begriffe: Es wird zwischen strategischen und taktischen Atomwaffen unterschieden. Ob diese Unterscheidung tatsächlich Sinn ergibt, ist umstritten. Allerdings hilft sie, den möglichen Zweck dieser Waffen besser zu verstehen.
- Strategische Atomwaffen werden über eine große Distanz von mindestens 5.500 Kilometern eingesetzt. Ans Ziel gelangen könnten sie mit schweren Kampfflugzeugen, mit landgestützten Interkontinentalraketen oder mit ballistischen Raketen, die von U-Booten abgefeuert werden. Die russischen Interkontinentalraketen haben eine Reichweite von bis zu 18.000 Kilometern und könnten damit theoretisch jeden Winkel der Erde erreichen. Mit strategischen Atomwaffen könnten sich also zum Beispiel die USA und Russland gegenseitig aus der Ferne beschießen.
- Taktische Atomwaffen werden über eine geringere Distanz eingesetzt, zum Beispiel von einer Kriegspartei in einem Kriegsgebiet. Daher werden sie auch Gefechtsfeldwaffen genannt. Ihre mögliche Sprengkraft ist deutlich höher als bei konventionellen Waffen. Es kann sich dabei um Artilleriegeschosse oder um Sprengköpfe auf Raketen und Marschflugkörpern handeln.
Alles dreht sich um Abschreckung
Nach Hiroshima und Nagasaki wurden Atomwaffen nie wieder zu Kriegszwecken eingesetzt. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die Staaten zunächst daran gearbeitet, ihre Arsenale abzubauen. Doch inzwischen wächst das internationale Misstrauen. Atomwaffen werden wohl in der Welt bleiben, vielleicht werden die Bestände sogar wachsen.
Denn letztlich dreht sich bei diesem Thema alles um einen Gedanken: Abschreckung. Die Nuklearmächte haben diese Waffen, um andere Nuklearmächte davon abzuhalten, ihrerseits Atomwaffen einzusetzen.
Das Szenario geht so: Staat A wird sich nicht trauen, einen atomaren Angriff (also einen Erstschlag) auf Staat B zu starten, wenn Staat B darauf seinerseits mit einer atomaren Vergeltung (Zweitschlag) reagieren würde. Der Politikwissenschaftler und Atomwaffen-Experte Frank Sauer hat das im "Zeit"-Podcast "Politikteil" so treffend wie flapsig ausgedrückt: "Wer als Erstes schießt, ist als Zweites tot."
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist beim Thema Atomwaffen eine widersprüchliche Entwicklung zu beobachten. Einerseits wurden sie stets weiterentwickelt: Die heutigen Massenvernichtungswaffen haben ein noch viel größeres Zerstörungspotenzial als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki.
Andererseits ist der Einsatz tabuisiert. Ein Staat, der Atomwaffen verwendet, würde wohl weltweit geächtet werden. Auch die mögliche Gegenreaktion anderer Staaten macht einen atomaren Erstschlag unwahrscheinlich. Zumindest galt das bis jetzt. Es ist zu hoffen, dass es dabei bleibt.
Verwendete Quellen
- atomwaffena-z.info: Büchel
- sicherheitspolitik.bpb.de: Atomwaffen
- sicherheitspolitik.bpb.de: Trägersysteme
- Sipri.org: SIPRI Yearbook 2023 - 7. World nuclear forces
- Zeit.de: Podcast "Das Politikteil" Fünf Jahre bis zum Krieg mit Russland?
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