Nach zermürbenden Gesprächen, Anfeindungen und Machtspielen raufen sich Angela Merkel und Horst Seehofer in letzter Minute noch zusammen. Die CSU feiert das als "Asylwende", die über die Grenzen Deutschlands hinausgeht, Merkel hat eine scheinbar unlösbaren Streit mit einem Kompromiss doch gelöst. Doch gewonnen hat laut Medien niemand.

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Der eine droht mit Rücktritt, die andere bewegt sich so wenig, dass am Ende Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble als Vermittler eingreifen muss. Doch jetzt ist wieder alles gut zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer - oder?

So kommentiert die Presse den Asylstreit und die Einigung der Union.

Reaktionen der nationalen Presse

"Bild": Giftige Lösung

"CDU und CSU bereden ein konkretes, kniffliges Problem der Asylpolitik, das für viele Bürger allerdings eine hoch symbolische, also hoch politische Bedeutung hat. Dann kommen sie auf eine halbwegs durchdachte Lösung.

So war es gestern. Und so war es nicht schlecht. Aber die mehr als 14 Tage davor, die waren das nackte Grauen. (...)

Wie im Himmel wurde aus einem praktischen Problem, das den Bürgern wichtig ist, eine mit äußerster Brutalität aufgeladene Machtfrage? In der sich ein so erfahrener Minister wie Seehofer am Ende hinreißen ließ, seiner Wut und seinem gekränkten Ego freien Lauf zu lassen."

"Zeit Online": Realität versus CSU

"Die Union will Transitzentren an der Grenze zu Österreich aufbauen. Dort angekommen, befinden sich Flüchtlinge nicht wirklich in Deutschland - "Fiktion der Nichteinreise" nennen das die Juristen treffend. Aus diesen Zentren sollen die sogenannten Dublin-Fälle, also Flüchtlinge, für die ein anderes Land zuständig ist, schnell dorthin zurückgebracht werden. (...)

Was, wenn sich die Transitzentren zu so einer Luftnummer erweisen wie Seehofers Ankerzentren? Transitzentren müssten natürlich bewacht werden. Ein großer Aufwand für die Polizei. Dort braucht es Richter und Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. In den Zentren würden sich schnell viele perspektivlose Flüchtlinge stauen, vielleicht sogar Familien mit Kindern - kaum vorstellbar, dass sich die Gemeinden in der Grenzregion darum reißen werden, solche Zentren zu beheimaten. Kurz: Es sind viele Unwägbarkeiten versammelt, die - wenn der Bluff auffliegt - ganz schnell auf die CSU zurückfallen werden."

"Spiegel Online": Fiktion einer Einigung

"Tatsächlich ist diese sogenannte Einigung der Union in ihrem jahrelang andauernden Asylstreit (der wievielte eigentlich?) nichts anderes als eine abenteuerliche Verbiegung der Realität. So wie im Plan der Union, an der Grenze sogenannte Transitzentren einzurichten, von einer "fiktiven Einreise" gesprochen wird, also so getan wird, als seien die Ankommenden noch gar nicht angekommen, sondern in einer Art Niemandsland, in dem für sie nicht dieselben Rechte gelten wie bei einer tatsächlichen Einreise, ist auch diese Einigung eine kontrafaktische Fiktion, ein unheiliges Mittel zum Zweck, die zerrüttete Union beisammen zu halten.

Denn tatsächlich haben CDU und CSU keine Lösung ihres Konflikts gefunden und auch keinen nachhaltigen Weg zur Steuerung der Sekundärmigration. Sie haben ihre Probleme lediglich abgeschoben. Zur SPD. Nach Österreich. Und bis zur nächsten Gelegenheit der gegenseitigen Demütigung."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Nur noch mit Fiktion zu retten

"Seehofers abgeblasener Vielleicht-Rücktritt war nicht nur Merkels Unerbittlichkeit geschuldet, sondern auch der Rivalität einer CSU-Führung, die durch die Auseinandersetzung mit der CDU stolperte wie ein Wiesnbesucher nach sechs Maß Festbier. Die CSU-Spitze drohte der kühler kalkulierenden Kanzlerin mit etwas, was die CSU mehrheitlich nicht will.

Was grandioser Auftakt zur Verteidigung der absoluten Mehrheit werden sollte, geriet, miserabel durchdacht, zur Selbstbeschädigung. Seehofer wird dafür nicht als Alleinschuldiger in die Parteigeschichte eingehen wollen. Nicht nur jene in der CSU, auf die er deuten könnte, werden mehr denn je auf Merkel zeigen. Niemandem kann entgangen sein, dass die Union sich nur noch mit Fiktionen zu retten wusste."

"Stuttgarter Nachrichten": An der Grenze zwischen wichtig und widerlich

"Es gibt in der Politik manchmal Grenzen, die in Krisenzeiten verschwimmen, etwa die zwischen wichtig und widerlich. Es ist wichtig und durchaus verantwortungsvoll, den Streit über die künftige Asylpolitik, der in Berlin die Union und die gesamte große Koalition an den Rand des Scheiterns bringt, auszutragen - auch Positionen zu benennen, ohne elegant ein Kompromiss-Ass aus dem Ärmel zu ziehen, wenn die harte Kontroverse dramatisch aus dem Ruder zu laufen droht und sich zuspitzt.

Widerlich wird die politische Debatte dann aber, wenn sie von Egoismen und Machtspielen überlagert wird und wenn der Streit über die Sache zum individuellen Begleichen offener Rechnungen missbraucht wird."

"Badische Zeitung": Konservative als skrupellose Zocker

"Konservative als skrupellose Zocker – kaum ein Bild wirkt abschreckender auf ein weiterhin zahlenmäßig gar nicht so kleines bürgerliches Publikum. Kaum jemals wurden seine Entstehung und Verbreitung leichtfertiger in Kauf genommen als jetzt vom Bundesinnenminister und Noch-CSU-Chef.

Seehofer war kein Krisenszenario zu düster, um sich als Macher zu inszenieren. Er redete Probleme groß, um die Kanzlerin klein zu machen, er schürte Ängste und spielte Poker mit ihnen – am Ende sollten ein paar Flüchtlinge an den Grenzen draußen, Angela Merkel als Gedemütigte und er als Sieger übrig bleiben.

Das hat nicht funktioniert. Weil die Bürger die Maßlosigkeit hinter Seehofers Plan erkannten und nicht einmal die CSU zuletzt sicher war, ob mit einer solchen Linie wenigstens die Macht im Freistaat zu garantieren wäre. Zertrümmert worden ist unterwegs zu dieser Erkenntnis allerdings die Gewissheit, wonach CDU und CSU weiter politische Geschwister sein sollten."

Reaktionen der internationalen Presse

"Die Presse" (Österreich): Von der Willkommenskanzlerin zur Machtpolitikerin

"Seehofers Name könnte sich bald auf einer langen Liste von Politikern finden, die im Machtkampf mit Merkel untergegangen sind. Ihre Gegner und ihre Fans verklären die CDU-Chefin zwar zur 'Willkommenskanzlerin' – dabei ist Merkel zuallererst eine zähe Machtpolitikerin. Die Flüchtlingskrise wird sie jedoch nicht mehr los. Sie wird sie bis ans Ende ihrer Kanzlerschaft begleiten (das nun jederzeit möglich scheint).

Selbst ein unionsinterner Frieden muss diese Koalition nicht retten. An Neuwahlen hat in der SPD zwar niemand Interesse, aber Seehofers Migrationsvorschläge müsste die Partei erst einmal schlucken. Zur Erinnerung: Die SPD-Basis hat sich mit zugehaltener Nase und tief gespalten in diese Koalition geschleppt. Sicher ist nichts in diesen Tagen. Deutschland ist unberechenbarer geworden. Nicht nur im Fußball. Nur eine Prognose darf man wagen: Das Drama wird weitergehen."

"Neue Zürcher Zeitung" (Schweiz): Abschiebung auf dem Reißbrett

"Im Idealfall sollen die nun auf dem Reißbrett entworfenen neuen Asylzentren die Abwicklung dieser Verfahren innerhalb weniger Tage ermöglichen. Doch woher kommt die Zuversicht, dass das plötzlich so schnell gehen wird? Die Erfahrungen mit der deutschen Asylbürokratie und Justiz lassen erhebliche Zweifel aufkommen.

Können Asylsuchende überhaupt gegen ihren Willen für längere Zeit in diesen Asylzentren festgehalten werden? Kann eine in Seehofers Masterplan vorgesehene Verkürzung der Rechtsmittel von Asylbewerbern gerichtsfest durchgesetzt werden? Wird Italien Hand zur Übernahme von Asylbewerbern bieten, obschon das der neue Ministerpräsident Conte letzte Woche explizit ausschloss? Was wird Österreich tun?

Fragen über Fragen und keine schlüssigen Antworten. Womit die abschließende Frage erlaubt sei, was der ganze dramatische Streit zwischen den beiden Unionsparteien, der die deutsche Politik während dreier Wochen in Atem hielt, eigentlich sollte. Diese Frage dürften sich viele Bürger stellen, die im Oktober in Bayern an die Wahlurnen gehen werden."

"Times" (England): 14 Jahre gegenseitige Demütigung

"Die CSU, die im Oktober mit einer schwierigen Landtagswahl konfrontiert ist, bei der ihr der Verlust vieler Stimmen an die weit rechts stehende Alternative für Deutschland droht, kann nun den Wählern erklären, dass sie die von vielen geforderte härtere Gangart in Sachen Migration erreicht habe. Die sich abzeichnenden Wahlen in Bayern waren ein Grund für die Regierungskrise.

Der andere liegt in Seehofers und Merkels 14 Jahre langer Geschichte gegenseitiger Demütigungen und Ressentiments, die sich verstärkt haben seit der Flüchtlingskrise von 2015, an der er ihr die Schuld gibt."

"Guardian" (England): Merkel überlebt erneut Herausforderung ihrer Autorität

"Die Vereinbarung erfordert zwar noch die Zustimmung von Merkels anderem Koalitionspartner, den Sozialdemokraten, damit sie Regierungspolitik werden kann. Dennoch legt sie nahe, dass Merkel - seit zwölf Jahren an der Macht und dienstälteste Regierungschefin in der EU - zunächst weitermachen wird, nachdem sie nun die jüngste verletzende Herausforderung ihrer Autorität überlebt hat. (...)

Während Merkel in dieser Krise nicht locker ließ und Zugeständnisse von EU-Partnern für eine Verschärfung der Regeln für die Migration erreichte, wuchs der Druck auf Seehofer und die CSU seitens anderer Parteien.

Angesichts vernichtender Kritik über Parteigrenzen hinweg und in den Medien, dürftiger Umfrageergebnisse sowie der Forderung von Politikern, die Allianz (von CDU und CSU) zu bewahren, hat die CSU in dieser Woche nachgegeben."

"Jyllands-Posten" (Dänemark): Nahe am politischen Abgrund

"Man könnte meinen, dass die Welt so viele Probleme hat, dass es nicht notwendig ist, zusätzliche Herausforderungen zu schaffen. Aber genau das passiert heute in Deutschland. Europas größtes und wichtigstes Land hat eine Krise erfunden, die in vielerlei Hinsicht das politische Berlin erschüttert. (...)

Auf jeden Fall ist es unverständlich, dass sich eine Regierung so viel Uneinigkeit über etwas erlaubt hat, was viele Menschen im Land beschäftigt. Merkel und Seehofer sind nahe am politischen Ablaufdatum. Je früher sie es erkennen, desto besser."

"De Volkskrant" (Niederlande): Merkels Stern sinkt

"Es scheint, dass Angela Merkel mit diesem Deal zum wiederholten Mal in ihrer Laufbahn ein machtpolitisches Husarenstück geliefert hat und dabei ihrer Linie treu geblieben ist. Sie hat sich nicht provozieren lassen und sie hat ihren Willen durchgesetzt.

Die Idee von zentralen Transitzentren unterbreitete sie Horst Seehofer bereits vorige Woche, neu ist jetzt nur, dass sie an der Grenze errichtet werden sollen. Und doch dürfte sie dadurch geschwächt worden sein - in Deutschland und in Europa. Die CDU ist eine Partei, die sich Machterhalt auf ihre Fahnen geschrieben hat. Ein alter Führer geht erst, wenn ein Nachfolger bereitsteht, so wie Merkel damals Helmut Kohl fallen ließ.

Noch gibt es keinen Nachfolger, aber in den Reihen der Partei beginnt es zu knistern. Julia Klöckner, die ambitionierte Ministerin für Ernährung und Landwirtschaft, äußerte überraschenderweise ihr Verständnis für die CSU. Gesundheitsminister Jens Spahn widerspricht Merkel bereits seit Monaten öffentlich. Bei einer Politikerin von Merkels Statur kann das Ende lange dauern, aber ihr Stern sinkt unverkennbar."

(dpa/cai/arg)

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