Eine überraschend diverse Runde diskutierte bei Anne Will über Rassismus und Polizeigewalt – mit einem klaren Befund. US-Präsident Donald Trump sei der Krise in seinem Land nicht gewachsen. Aber auch in Deutschland gebe es ungelöste Probleme.

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Es gibt diese Vorwürfe gegen die deutschen Politik-Talkshows: Zu viele alte weiße Männer diskutieren über die Köpfe der Betroffenen hinweg die Themen, die das Land bewegt. Minderheiten und junge Menschen sind häufig unterrepräsentiert. In dieser Hinsicht war die Sendung von Anne Will am Sonntag ein klares Statement.
Bei der Diskussion über Rassismus und Polizeigewalt in den USA (und Deutschland) sowie die Rolle, die Präsident Donald Trump dabei spielt, saßen mit Buchautorin Alice Hasters, Kolumnistin Samira El Ouassil und Grünen-Politiker Cem Özdemir drei Menschen mit Migrationshintergrund und zwei Frauen mit im Studio. So wurde die Debatte auch von Menschen geführt, die die Folgen solcher Verhaltensweisen am eigenen Leib erfahren haben.

Was ist das Thema bei "Anne Will"?

Nach dem Tod des Afro-Amerikaners George Floyd nach einem brutalen Polizeieinsatz ebben die Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA nicht ab. Die Demonstrationen werden immer größer, mittlerweile wird auch weltweit unter dem Motto "Black lives matter" protestiert.
Doch nicht nur die Benachteiligung schwarzer und brauner Menschen, auch das Verhalten von US-Präsident Donald Trump, der sich in der Krise als Vertreter einen harten Durchgreifens inszeniert, um seine konservative Wählerbasis zu bedienen, steht zunehmend in der Kritik. Das Thema bei Anne Will: "Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus – wie viel Verantwortung trägt Präsident Trump für die Eskalation?"

Wer sind die Gäste?

Alice Hasters: In den Augen der Buchautorin ("Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten") ist klar, dass Donald Trump einen großen Anteil an der Größe der Proteste besitzt. "Es fehlt jemand, der eint." Sie betonte, dass schwarze Menschen in den USA nicht nur von Polizeigewalt, sondern auch von Arbeitslosigkeit als Folge der Coronakrise und vom Tod durch das Virus überproportional betroffen sind.

Samira El Ouassil: Trump habe die Sehnsucht nach Polarisierung unter seiner weißen, religiösen Wählerschaft bedient und sei "der Anti-Präsident der Unvereinigten Staaten", sagte die Kolumnistin und Autorin. Vier Monate Corona, vier Jahre Trump-Regierung und 400 Jahre Rassismus hätten in Verbindung mit dem Video von George Floyd die aktuelle Eskalation herbeigeführt. Die Gesellschaft in den USA kennzeichnete El Ouassil als "rassistisches System".

Christoph von Marschall: Für den Journalisten kommt es in den kommenden Wochen und Monaten darauf an, ob "Black lives matter" friedlich bleibe oder ob Bilder von Plünderungen dominieren würden. Letzteres würde Trump sogar helfen, die Wahl im Herbst zu gewinnen.
"Im Moment sieht es gut für Biden aus", sagte der "Tagesspiegel"-Reporter. Aber es würden ein paar Stimmungsumschwünge reichen, schon könnte Trump wiedergewählt werden.

Norbert Röttgen: "Das ist in einem Moment die Spanische Grippe, die Große Depression und 1968", sagte er CDU-Politiker zu aktuellen Lage in den USA. "Drei große Krisen und Erschütterungsphasen in einem." Trump versuche gar nicht der Präsident aller zu sein. Er spalte einfach weiter, weil er stark unter Druck stehe, kritisierte Röttgen, der sich sicher zeigte: Man werde in den nächsten fünf Monaten noch mehr davon sehen. Ein Wahlsieg sei daher keinesfalls ausgeschlossen, auch wenn Kontrahent Joe Biden derzeit die Nase vorn hat.
Darüber hinaus wollte Röttgen einen Vergleich zwischen Deutschland den USA nicht gelten lassen, wo er eine Verwobenheit von Rassismus mit dem Justiz- und Polizeisystem beobachtet. "Ich will ja nichts beschönigen", sagte er über die Lage in Deutschland. Tat es aber doch ein wenig – bevor ihn Alice Hasters daran erinnerte, dass es doch kein Zufall sein könne, dass alle nicht-weißen Menschen in ihrem Umfeld schon mal in eine verdachtsunabhängige Personenkontrolle geraten sind.

Cem Özdemir: Der Grünen-Politiker hoffte auf Trumps Abwahl im Herbst. "Sie merken, dass sie den Geist, den sie aus der Flasche gelassen haben, selbst nicht mehr kontrollieren können", sagte er über die zunehmende Zahl von Konservativen, die sich zuletzt vom Präsidenten distanziert hatten. "Die Weißen müssen ihren Rassismus aufarbeiten", forderte Özdemir weiter.

Stefan Simons: Als der aus den USA zugeschaltete Journalist der Deutschen Welle von seinem Arbeitsalltag berichtete, kam einem das unwillkürlich wie ein Bericht aus einem autokratischen Regime vor. Polizisten in Minneapolis bepöbeln Simons und sein Team und nehmen sie sogar unter Beschuss. "Es gibt Dutzende Kollegen, die von der Polizei verletzt wurden", berichtete Simons, eine Kollegin habe ihr Augenlicht in einem Auge verloren nach dem Beschuss mit Gummigeschossen. In der letzten Woche allein habe es in den USA 279 Übergriffe gegen die Presse gegeben, 2019 seien es 150 gewesen.
Simons glaubt, dass "der Fisch vom Kopf her stinkt". Soll heißen: Trumps Aussagen über die Medien ("Fake News", "Feinde des Volkes") haben in den seinen Augen direkte Auswirkungen auf das Verhalten der Polizei und führen zu mehr Gewalt gegen Journalisten.

Was war das Rededuell des Abends bei "Anne Will"?

Als Marschall vorsichtig anklingen ließ, dass die Probleme in der schwarzen Community wie Kriminalität teilweise auch hausgemacht seien und man nicht immer nur die Gesellschaft verantwortlich machen könne, widersprach Autorin Hasters energisch. "Die Probleme sind Folge des strukturellen Rassismus", sagte sie.

Was war der Moment des Abends?

Für den sorgte Cem Özdemir mit einer emotionale Rede zu Rassismus in Deutschland ganz zum Ende der Sendung. Ja, gab der Grünen-Politiker zu, heute gebe es einen Konsens in der politischen Klasse gegen Rassismus vorzugehen. Aber erst seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke 2019. Insbesondere in den 90er Jahren habe der Staat lange weggesehen. "Der Konsens wurde mit Blut geschrieben", klagte Özdemir. "Viele Leute hätten nicht sterben müssen, wenn man rechtzeitig hingeschaut hätte."

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Eine Sendung mit einer diversen Gästeauswahl und einem nicht reißerischen Titel: Im Vorfeld machten die Gastgeberin und ihr Team vieles richtig. Und auch in der Sendung bewies Anne Will in einer insgesamt konfliktarmen Sendung Fingerspitzengefühl. Vielleicht hätte sie Alice Hasters, Samira El Ouassil und Cem Özdemir auch mal nach ihren eigenen Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland befragen können. Und auch Norbert Röttgens Aussage, wonach es keinen strukturellen Rassismus in der deutschen Polizei gebe, hätte eine kritischere Intervention zur Folge haben können. Ansonsten leistete sich Will einen fehlerfreien Auftritt.

Was ist das Ergebnis?

Während die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt in Deutschland nicht die Wucht haben, die Gesellschaft aus ihren Angeln zu heben, sieht das in den USA angesichts der Massenarbeitslosigkeit als Folge der Corona-Krise und der Unfähigkeit von Trump, die Demonstranten zu beruhigen ganz anders aus. "Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus – wie viel Verantwortung trägt Präsident Trump für die Eskalation?", hieß die Frage im Titel der Sendung.
Die Runde war sich im Grunde einig: Alle dieses Probleme gab es schon vor Trump, aber der 45. Präsident der Vereinigten Staaten gießt wie vielleicht keiner seiner Vorgänger zusätzlich Öl ins Feuer. DW-Journalist Simons sprach von einem Feuerkessel, der jederzeit explodieren könnte. "Es gibt viel Wut hier, viel viel Wut". Das lässt für die nächsten Wochen und Monate nichts Gutes erahnen, könnte ironischerweise aber auch die Wiederwahl von Donald Trump ermöglichen, wenn der sich als hart durchgreifender starker Mann inszenieren kann, der für Ordnung sorgt.

Klar ist angesichts dieser Aussichten nur eines: Das mächtigste Land der Erde befindet sich derzeit in einer der größten Krisen seiner Geschichte. Und es könnte noch schlimmer werden.

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