Im August 2021 übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan. Der chaotische Abzug der Bundeswehr beschäftigt die deutsche Politik noch heute – doch auch die Frage: Wie umgehen mit dem neuen Regime und den Menschen im Land? Ein Blick zurück und nach vorn.
Die Bilder vom Flughafen in Kabul gingen vor zwei Jahren um die Welt: Verzweifelte Afghanen stürmten das Flugfeld. Manche versuchten, sich an den startenden Flugzeugen festzuklammern. Die Europäer und Amerikaner ergriffen die Flucht. Vor dem Chaos und der eigenen Niederlage.
Die radikalislamischen Taliban hatten im Sommer 2021 zunächst weite Teile des Landes und dann auch die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle gebracht. Der gewählte Präsident Ashraf Ghani floh am 15. August ins Ausland und gestand auf Facebook seine Niederlage ein: "Die Taliban haben gesiegt."
Doch eine Niederlage waren die Ereignisse auch für die Regierungen in Europa und Amerika. Der 20 Jahre währende Versuch des Westens, Demokratie, Frieden und Stabilität nach Afghanistan zu bringen, war endgültig gescheitert. Wie konnte es dazu kommen? Und wie geht es weiter? Diese Fragen beschäftigen die deutsche Politik auch zwei Jahre später.
Ralf Stegner: "Westen hatte kein wirkliches Bild vom Land"
Seit Juli 2022 arbeitet ein Untersuchungsausschuss des Bundestags den eiligen und teils chaotischen Abzug auf. Die hochrangigen Politiker und Politikerinnen dieser Zeit wird der Ausschuss zwar erst im kommenden Jahr befragen. Dann werden wohl die damaligen Minister
Für Schlussfolgerungen sei es daher zu früh, sagt der Ausschussvorsitzende
Die Ziele des Afghanistan-Einsatzes hätten sich dauernd geändert, sagt Stegner. "Es ging erst um Anti-Terrorkampf, dann um den Staatsaufbau, später auch um Bildungschancen für Frauen und Mädchen", so Stegner. "Das erweckt den Eindruck, dass der Westen sich kein wirkliches Bild vom Land gemacht hatte, dass man sich auf die Kultur und Strukturen nicht wirklich eingelassen hat."
Bürokratie erschwerte Evakuierung der Ortskräfte
Ein Thema im Untersuchungsausschuss ist das Schicksal der Ortskräfte, also der afghanischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Bundeswehr und ausländischen Behörden vor Ort. Da sie eng mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, fürchteten viele von ihnen die Vergeltung der Taliban. Doch ihre Evakuierung verlief zäh – oder scheiterte ganz an der Bürokratie.
Das Auswärtige Amt habe die Ausstellung von Visa komplizierter gemacht als nötig, sagte ein Bundeswehroffizier im vergangenen Juni im Ausschuss. Anträge seien aufgrund fehlender Daten zurückgeschickt worden. "Mit solchem bürokratischen Kleinkram sind die Menschen hin und her geschickt worden. Alles Dinge, die nicht helfen, wenn man schnell sein will." Im Bundesinnenministerium gab es wiederum generelle Vorbehalte: Man habe einen unkontrollierten Zuzug aus Afghanistan befürchtet, sagte ein Referatsleiter aus.
"Eine gute Figur hat Deutschland bei der Ausreise von Ortskräften nicht abgegeben", sagt auch Ralf Stegner. "Es ist leider eine schlechte deutsche Tradition: Wenn man sich zwischen Bürokratie und Humanität entscheiden muss, geht die Bürokratie häufig vor. Die Amerikaner zum Beispiel haben eine zupackendere Ausreise organisiert als die deutsche Regierung."
Immerhin 20.000 Ortskräfte und Familienangehörige aus Afghanistan sind seit dem Abzug in Deutschland aufgenommen worden. Insgesamt spricht das Auswärtige Amt von mehr als 30.000 gefährdeten Afghaninnen und Afghanen, die hierzulande in den vergangenen zwei Jahren Zuflucht gefunden haben. Das sei im Vergleich mit anderen Staaten der Europäischen Union mit Abstand die größte Zahl, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Montag in der Bundespressekonferenz.
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97 Prozent der Afghaninnen und Afghanen leben in Armut
Die Bundesregierung ringt auch mit Antworten auf eine andere Frage. Sie betrifft nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart und die Zukunft. Wie soll sie umgehen mit dem Taliban-Regime, das seine Macht nach Einschätzung des Auswärtigen Amts in den vergangenen zwei Jahren gefestigt hat?
Unter dem radikalislamischen Gottesstaat haben vor allem Frauen und Mädchen zu leiden. Die Machthaber haben sie in ihren Grundrechten beschnitten, verbieten Mädchen den Besuch weiterführender Schulen. In vielen Branchen dürfen Frauen nicht mehr arbeiten. Eine Zusammenarbeit mit einer Regierung, die so etwas durchsetzt, erscheint aus europäischer Sicht ausgeschlossen. Andererseits sind die Menschen im Land auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben 97 Prozent der Afghaninnen und Afghanen in Armut.
Ellinor Zeino ist Direktorin des Südwestasien-Programms der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie schilderte die aktuelle Situation in Afghanistan in der vergangenen Woche in einem Pressegespräch so: "Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert. In Kabul ist es inzwischen wieder möglich, sich sicher zu bewegen." Die Stimmung der Menschen im Land sei jedoch lethargisch, die wirtschaftliche Lage desolat.
"Die Menschen vor Ort finden es gut, wenn Ausländer kommen und auch mit der De-facto-Regierung sprechen", sagte Zeino. Wenn westliche Regierungen strikt auf der Durchsetzung von Frauen- und Minderheitenrechten beharren, bringe das den Menschen in ihrer wirtschaftlichen Not aus ihrer eigenen Perspektive eher wenig und könne den Interessen von Frauen mitunter schaden. Die Botschaft der Afghanen an das Ausland sei: "Bitte bleibt mit uns in Kontakt. Verhandelt, verhandelt hart, aber pragmatisch und Schritt für Schritt."
"Kein Kontakt bedeutet: kein Einfluss"
Die Bundesregierung versucht sich in einem schwierigen Spagat: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat die staatliche Kooperation mit dem Taliban-Regime ausgesetzt. Allerdings unterstütze man weiterhin "regierungsferne" Projekte von Weltbank oder Nichtregierungsorganisationen, heißt es auf der Webseite des Ministeriums.
Auch SPD-Politiker Ralf Stegner wirbt dafür, Land und Leute nicht komplett den Rücken zu kehren. "Ein Wertekompass ist in der Außenpolitik wichtig. Es ist aber nicht klug, sich mit moralischen Ansprüchen vor allem selbst zu befriedigen", sagt Stegner. "Kein Kontakt bedeutet: kein Einfluss. Und wenn wir ohne Einfluss bleiben, können wir auch für die Menschen vor Ort nichts bewirken. Die Verantwortung komplett abzugeben, würde nicht zu der Rolle passen, die wir 20 Jahre lang in Afghanistan gespielt haben."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Ralf Stegner
- Pressegespräch der Konrad-Adenauer-Stiftung
- Regierungspressekonferenz in der Bundespressekonferenz
- bmz.de: Afghanistan
- bundestag.de: Bürokratie hat Aufnahme von afghanischen Ortskräften erschwert
- undp.org: 97 percent of Afghans could plunge into poverty by mid 2022, says UNDP
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