Die Alpenrepublik liefert keine Waffen an die Ukraine und ist nicht Teil der Nato. Aber spätestens mit dem EU-Beitritt wurde die Neutralität stark verwässert. Trotzdem wird sie in Österreich hochgehalten.
Die Geschichte geht so: Im Mai 1955 reiste eine vom damaligen konservativen Bundeskanzler Julius Raab angeführte Delegation von Wien nach Moskau, um Nikita Chruschtschow einzukochen. Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges möge der Sowjetführer seine Truppen aus Österreich abziehen und dem Land endlich volle Souveränität geben.
Raab hatte zwei Geheimwaffen im Gepäck: etliche Flaschen besten Weines und eine große Portion österreichische Gemütlichkeit. Am Ende, so wird es immer noch gerne erzählt, habe man die Russen – wie man in Wien sagt – unter den Tisch gesoffen. Einzige Bedingung der kommunistischen Zechgenossen: Das im Krieg mit Deutschland verbündete Österreich müsse seine immerwährende Neutralität erklären.
An der österreichischen Neutralität wird nicht gerüttelt
Wie vieles im Zusammenhang mit der österreichischen Neutralität gehört diese Geschichte in das Reich der Folklore. Der von jahrelangem, exzessiven Alkoholkonsum bereits gezeichnete Kanzler Raab hatte sich am entscheidenden Tag der Verhandlungen beim Trinken übernommen und musste sich schon am frühen Abend zurückziehen.
Sein nüchterner Vizekanzler, der Sozialdemokrat Adolf Schärf einigte sich schließlich mit den Sowjets auf den Staatsvertrag. Das Ende der Besetzung Österreichs war in Moskau schon zuvor avisiert worden. Neben dem Neutralitäts-Versprechen musste die junge Republik der Sowjetunion die damals erhebliche Summe von 150 Millionen Dollar zahlen – offiziell als Ablöse für die von den Besatzern übernommene Infrastruktur.
Im Nachkriegsösterreich war die Neutralität zunächst wenig populär, der Wunsch nach einer auch militärischen Bindung an den Westen groß. Doch mit der Zeit arrangierten sich die Österreicherinnen und Österreicher mit den Gegebenheiten, die einst von Moskau aufgezwungene Neutralität wurde zu einem Identifikationsmerkmal des Landes. Laut einer Umfrage vom Juni 2022 sprachen sich auch vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Februar 71 Prozent der Bevölkerung dafür aus.
Ein Antrag auf Nato-Beitritt nach dem Vorbild von Schweden oder Finnland steht nicht zur Debatte. Wohl auch, weil zwischen Österreich und Russland Nato-Länder wie Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen liegen: Anders als die beiden nördlichen Länder muss man einen konventionellen Angriff mit Panzern kaum fürchten.
An der breiten Ablehnung eines Nato-Beitrittes ändert auch ein überparteiliches Komitee mit prominenten Mitgliedern aus dem linken, liberalen und bürgerlichen Lager nichts, das darüber zumindest diskutieren möchte. Um die Neutralität gegen die Mitgliedschaft im nordatlantischen Verteidigungsbündnis zu tauschen, wäre wohl eine Volksabstimmung, auf jeden Fall aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament notwendig. Derzeit sympathisiert aber einzig die kleine liberale Neos-Partei mit der Nato. An der österreichischen Neutralität wird nicht gerüttelt.
Österreich und das EU-Verteidigungsbündnis
Dabei ist diese keineswegs etwa mit jener im Nachbarland Schweiz vergleichbar. Die Neutralität wird in Wien einerseits weitaus großzügiger ausgelegt. Andererseits ist die chronisch unterfinanzierte österreichische Armee viel schlechter aufgestellt. Im Falle eines feindlichen Angriffs könnte sich das Land wohl kaum alleine verteidigen.
Das müsste es aber auch nicht. Denn als vollwertiges EU-Mitglied ist Österreich Teil einer europäischen Bündnisgemeinschaft – die im Notfall auch militärische Unterstützung vorsieht. Im Falle eines Angriffs wären die anderen Länder verpflichtet, Österreich zur Hilfe zu eilen.
Das gilt freilich auch umgekehrt: Sollte etwa der russische Diktator Wladimir Putin ein EU-Land überfallen, müsste streng genommen auch das neutrale Österreich militärische Unterstützung leisten. Allerdings sehen die EU-Verträge eine Art Ausstiegsoption für neutrale Länder vor. Die sogenannte "Irische Klausel" legt fest, dass diese sich grundsätzlich aus der Affäre ziehen können. Würde man das tun?
Dazu gibt sich die Bundesregierung in Wien bedeckt: Eine Entscheidung von solcher Tragweite sei nicht prognostizierbar. Aus dem für Neutralitätsfragen zuständigen Verfassungsministerium ist nur so viel zu erfahren: Ein militärischer Einsatz im Rahmen des EU-Verteidigungsbündnisses wäre grundsätzlich mit der Neutralität vereinbar.
Schon jetzt ist Österreich in bestehende und geplante Initiativen zu einer EU-weiten Verteidigungsstrategie weitgehend eingebunden. Die im Aufbau befindliche gemeinsame Europa-Armee wird ausgerechnet von einem Österreicher, dem früheren Heereschef Robert Brieger, geleitet. Auch an der vom deutschen Kanzler Olaf Scholz initiierten europäischen Luftraumsicherung mit Raketen und Drohnen beteiligt sich Österreich. Und im Ukraine-Krieg steht die derzeitige konservativ-grüne Bundesregierung eindeutig auf der Seite Kiews. Einzige Einschränkung: Wien liefert kein Kriegsgerät und bildet auch keine ukrainischen Soldaten aus.
Dass die Neutralität mit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 weitgehend ausgehöhlt würde, stand schon lange zuvor fest. Ende der 1980er-Jahre reiste der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) nach Moskau, um von der damaligen Sowjetführung grünes Licht zu bekommen. Im Kreml war man nicht begeistert, letztlich verzichtete man dort aber auf ein Veto. In einem Interview vor einigen Jahren nannte Vranitzky seinen damaligen Besuch eine Frage der "Courtoisie", also der Höflichkeit: Letztlich hätte die Sowjetunion den Beitritt Österreichs zur damaligen EG ohnehin nicht verhindern können.
Was ist aus der Neutralität geworden?
Tatsache ist aber auch, dass Österreich in der Vergangenheit vom Status eines neutralen Landes profitiert hat. Vor allem der legendäre SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky positionierte das Land in den 1970er-Jahren geschickt als unparteiischen Vermittler zwischen Ost und West. Auch deshalb siedelten sich in dieser Zeit UN-Organisationen wie die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), die Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) oder das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in Wien an.
Die in dieser Zeit sehr strikt gelebte Neutralitätspolitik war aber auch der geografischen Nähe zum Ostblock geschuldet: Österreich teilte damals eine gut 350 Kilometer lange, stacheldrahtzaunbewehrte Grenze mit Ungarn und der Tschechoslowakei. Die Truppen des Warschauer Paktes standen gewissermaßen vor der Haustüre, sowohl bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 als auch beim Einmarsch sowjetischer Truppen im Zuge des Prager Frühlings 1968 fürchtete man in Wien ein Übergreifen der Kampfhandlungen. Das ging so weit, dass die Bundesregierung 1968 beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF intervenierte, weil dieser allzu beherzt über die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei berichtete.
Nicht zuletzt aufgrund der Neutralität konnte Österreich auch ein recht ungezwungenes Verhältnis zur Sowjetunion pflegen, wenn es um wirtschaftliche Zusammenarbeit ging. Als erste westeuropäische Demokratie schloss das Land 1968 einen umfangreichen und sehr preisgünstigen Gasliefervertrag mit der Sowjetunion ab – der nach Ansicht vieler Volkswirtschaftler einen großen Beitrag zum österreichischen Wohlstand leistete.
Die damalige konservative Bundesregierung in Wien mochte auch den gerade abgeschlossenen Gasdeal im Auge gehabt haben, als sie die blutige Niederschlagung der tschechoslowakischen Demokratiebewegung eine "innere Angelegenheit" des Ostblocks nannte. Eine Ansicht, die auch die damals oppositionellen Sozialdemokraten teilten. Dass man sich bei internationalen Konflikten auf keine Seite schlägt – selbst wenn die Aggressoren deutlich zu benennen waren –, war lange breiter Konsens in Österreich.
Das hat sich spätestens mit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine geändert. Nur die rechtspopulistische FPÖ wirbt gelegentlich um Verständnis für die russische Position, alle anderen Parteien stehen ohne Wenn und Aber auf der Seite Kiews.
Die traditionell guten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland sind weitgehend eingefroren. Politisch ist Österreich nicht unparteiisch, auch die militärische Bündnisfreiheit wurde mit dem EU-Beitritt stark verwässert. Was von der Neutralität bleibt, ist die Weigerung, Waffen in die Ukraine zu liefern und der Nato beizutreten.
Verwendete Quellen:
- derstandard.de: Österreichs Bevölkerung setzt weiter auf Neutralität
- oe1.orf.at: Staatsvertrag: So war es wirklich
- kurier.at: Karas, Treichl, Griss und andere fordern Bündnis für offene Debatte über Neutralität
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