• Klimawandel, Tourismus und der Krieg in der Ukraine haben gravierende Folgen für die Arktis, die für Deutschland relevant sind.
  • Im Interview erklärt der Leiter des Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung die aktuellen Entwicklungen.
Ein Interview

Seit fünf Jahren betreibt das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), in Potsdam das Deutsche Arktisbüro. Da Ziel: Wissenschaftliche Erkenntnisse in die Politik tragen und Fragestellungen aus der Politik in der Forschung aufgreifen. Riffreporter Björn Lohmann sprach mit Dr. Volker Rachold, dem Leiter des Arktisbüros, über die Folgen von Klimawandel, Tourismus und dem Krieg in der Ukraine – und warum diese Entwicklungen in der Arktis für Deutschland so relevant sind.

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Herr Rachold, warum benötigt Deutschland ein Arktisbüro?

Dr. Volker Rachold: Deutschland ist schon lange in der Arktis engagiert. Deutschland ist Beobachter im Arktischen Rat, dem wichtigsten Gremium der Arktis. Vertreten sind dort die acht Anrainerstaaten und Vertreter der indigenen Bevölkerung. Der Rat verabschiedet gemeinsame Projekte zu Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung. Deutschland ist dort stark engagiert durch das Auswärtige Amt. Als Arktisbüro sitzen wir an der Schnittstelle, die Wissenschaft über das Auswärtige Amt in den Arktischen Rat einzubringen. Außerdem gibt es wirtschaftliche Interessen, beispielsweise Firmen, die Umwelt- und Meerestechnik für die Arktis liefern, weshalb wir auch mit dem Bundeswirtschaftsministerium zusammenarbeiten.

Insgesamt beraten Sie sogar sieben Bundesministerien.

Ja. Deutschland ist eine große Schifffahrtsnation, und die Seewege durch die Arktis sind kürzer als über den Suezkanal. Das erklärt unsere Zusammenarbeit mit dem Verkehrsministerium. Auch die Fischerei in der Arktis ist ein Thema für Deutschland – das verbindet uns mit dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Das Umweltministerium ist natürlich sehr am Schutz der Arktis interessiert, aber auch das Verteidigungsministerium schaut auf die Arktis: Die Region hat insbesondere in den letzten Monaten aus sicherheitspolitischer Sicht an Bedeutung gewonnen. Ein zentraler Partner für uns ist natürlich das für die Arktisforschung zuständige Bundesforschungsministerium.

Auf einen Blick: das Deutsche Arktisbüro

Das Deutsche Arktisbüro entstand 2017 auf Initiative des Auswärtigen Amtes und des Bundesforschungsministeriums. Leiter ist seitdem der AWI-Forscher und langjährige Geschäftsführer des International Arctic Science Committee Dr. Volker Rachold.

Das Arktisbüro:

  • Berät Bundesregierung, Ministerien, Behörden und Wirtschaft zu Arktisfragen.
  • Liefert aufbereitete Informationen aus der Forschung für Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.
  • Vermittelt politikrelevante Fragen an die Wissenschaft.
  • Organisiert nationale Arktisveranstaltungen.
  • Unterstützt die Bundesregierung dabei, deutsche Arktisforschung und -politik international zu präsentieren.

Was sind Ihre Aufgaben dabei?

Wir sind bestrebt, Wissenschaft zu liefern, aber auch Fragen aus der Politik an die Wissenschaft zurückspielen. Das AWI hat auch die Aufgabe, gesellschaftliche Fragen zu beantworten und muss dazu die Fragen kennen. Ein Ergebnis sind zum Beispiel die Leitlinien der deutschen Arktispolitik, die vor drei Jahren von der Bundesregierung verabschiedet wurden.

Was sind konkrete deutsche Interessen in den Leitlinien?

Zusammengefasst: Der Schutz und Erhalt der Arktis und, dass die Entwicklung der Arktis nachhaltig erfolgen muss.

Hört die Politik auf das, was das Arktisbüro rät?

In dem Fall schon, wir sind in der Arktis ein gutes Beispiel. Wir sehen in den Leitlinien überall, dass man auf die Wissenschaft gehört hat. Das ist natürlich nur ein Papier, jetzt geht es vor allen Dingen um die Umsetzung.

Leitlinien der deutschen Arktispolitik

Die deutsche Arktispolitik formuliert in den Leitlinien fünf Ziele:

  • Klima- und Umweltschutz in der Arktis im Einklang mit den Zielen von Paris
  • Anwendung umweltfreundlicher Technologien und höchster Umweltstandards sowie die Ausweisung von Schutzgebieten zum Artenschutz
  • Wahrung der Interessen der indigenen Bevölkerung und deren Lebensräumen
  • Freie und verantwortungsvolle Arktisforschung
  • Enge internationale Zusammenarbeit, um die Arktis als konfliktarme Region zu erhalten

Ist das Arktisbüro auch Ansprechpartner für internationale Interessengruppen?

Indirekt schon, wir haben zum Beispiel eng mit der indigenen Bevölkerung zusammengearbeitet. Vor einem Jahr haben wir ein Papier gemeinsam mit Vertretern der Samen erstellt, worin es um indigene Lebensweise und deren Wissen geht: Um Völker, die seit Jahrtausenden da leben, wie sie sich angepasst haben und ihr Wissen über Jahrtausende weitergeben. Das ist ein Paradebeispiel für Nachhaltigkeit, wie man mit und nicht gegen die Natur lebt. Wir haben auch sehr eng zusammengearbeitet mit den in Berlin ansässigen Botschaften der Anrainerstaaten der Arktis.

Der Eisverlust verändert die Arktis auf vielen Ebenen

Bei aller Zusammenarbeit gibt es doch sicher auch Konflikte?

Klar. Das Interesse an der Arktis ist enorm groß, von den Anrainerstaaten sowieso, aber es gibt auch externe Akteure. China drängt zum Beispiel stark in die Arktis, da geht es um Rohstoffe und Schifffahrtsrouten. Vor zwei Jahren hat Donald Trump ein Angebot gemacht Grönland zu kaufen, auch da ging es um strategische Interessen und Rohstoffe. 2007 hat Russland auf dem Nordpol seine Flagge gehisst, um zu dokumentieren, dass der Arktische Ozean Russland gehöre. Das klappt so natürlich nicht, das weiß auch Russland, aber das war ein Signal, eine Botschaft.

Die Arktis ist immer länger eisfrei. Was hat das für Folgen?

Wäre die Arktis wie vor 40 Jahren, gäbe es dieses große Interesse gar nicht. Es gibt die Prognose, dass der Arktische Ozean in 20 Jahren im Sommer komplett eisfrei sein könnte. Dann sind Rohstoffe einfacher zugänglich, und für die Schifffahrt ist das ein großes Potenzial. Grönland besitzt große Vorräte Seltener Erden, die werden leichter erreichbar.

Für indigene Bevölkerung ist die Entwicklung eine große Herausforderung, es verändert sich die ganze Umwelt. Völker, die von Robben- und Walfang leben, können nicht mehr vom Eis aus jagen, es trägt nicht mehr. Teilweise wird es aber auch einfacher, weil die Menschen mit Booten jagen. In jedem Fall sind es große Veränderung der Lebensweise. In der Tundra hat die Veränderung Einfluss auf die Rentierzucht.

Die Indigenen sagen aber teilweise auch, sie können sich an die natürliche Veränderung besser anpassen als an die wirtschaftliche Entwicklung und mehr Tourismus.

Was bedeutet der Tourismus für die Arktis?

Vor zwei Jahren haben wir ein Papier zum Tourismus in der Polarregionen veröffentlicht. Was es für Tourismusformen gibt und wie das die Umwelt gefährdet. Massentourismus ist ein großes Problem, aber auch die einfache Anreise in die Arktis als Individualtourist, im Gegensatz zur Antarktis. Jeder kann einen Flug buchen und einfach hinfliegen. Im Weihnachtsdorf in Rovaniemi in Nordfinnland ist im Winter die Hölle los.

Auch der Kreuzfahrttourismus ist alles andere als nachhaltig. Bis vor kurzem wurde noch mit Schweröl gefahren. Dann sind da die Abwässer und Bilgewässer, die austreten, die Gefahr von Ölunfällen sowie der Eintrag von Spezies, die in die Arktis nicht gehören, aber mit den Schiffen transportiert werden und andere Arten verdrängen. Und natürlich der Lärm.

Immerhin wurde vor Kurzem vereinbart, dass ab 2024 die Benutzung von Schweröl in der Arktis verboten sein soll, wie bereits in der Antarktis. Schweröl ist ein großes Problem, weil bei Verbrennung Ruß entsteht. Der legt sich auf Eis und Schnee, die dann viel schneller schmelzen, weil Sonnenenergie aufgenommen und weniger reflektiert wird.

Der Klimawandel verändert die Arktis, der Wandel in der Arktis das Klima

Der Klimawandel verändert die Arktis. Wie beeinflusst die veränderte Arktis das Weltklima?

Da gab es eine große Expedition des AWI mit der Polarstern vor zwei Jahren. Wie wirken sich die Änderungen auf unser Klima aus? Durch das Schmelzen des arktischen Eises gibt es Änderungen der atmosphärischen Zirkulation. Die Arktis erwärmt sich dreimal schneller als der Rest der Erde, dadurch ist der Temperaturunterschied zum Äquator kleiner geworden und die Strömungsmuster haben sich verändert. Das merken wir an Hitzewellen im Sommer, aber auch an Kälteeinbrüchen im Frühjahr, wo Luft aus der Arktis weit nach Süden dringen kann.

Ein anderes Thema ist der Permafrost, die durchgängig gefrorenen Böden, die durch Erwärmung auftauen und im Permafrost gespeicherte Klimagase freisetzen. Die Forschung hat inzwischen die Vorstellung, dass das zwar nicht als eine Explosion passieren wird, sondern nach und nach – aber das sehen wir auch schon. Vieles an Treibhausgasen verbleibt auch in den Böden und wird recycelt, aber der Permafrost wird einen gewissen Anteil an der weiteren Erwärmung haben.

Das ist in vielen Klimamodellen, auch beim Weltklimarat, noch nicht richtig integriert, weil die Datenlage noch nicht richtig da ist. Aber das kommt langsam und wird in die größeren Klimamodelle eingespeist.

Was hat sich in den fünf Jahren, die es das Arktisbüro gibt, verändert?

Ich beschäftige mich seit fast 30 Jahren mit der Arktis, natürlich merkt man Veränderungen. Ich war im Mai vor zwei Jahren in Grönland bei über 20 Grad im T-Shirt – das gab es früher nicht. Vor ein paar Tagen waren in Tromsö in Nordnorwegen 31 Grad und erstmals tropische Nächte, also nachts nicht unter 20 Grad. Sibirien hat 40 Grad erlebt. Diese Extremereignisse sind in den letzten Jahren viel häufiger aufgetreten als früher. Und gerade beim Permafrost kann man sehen, wie die Temperaturen immer weiter ansteigen. Die Permafrostküsten erodieren durch wärmeres Meerwasser und wärmere Luft.

Am besten sehen wir das am Meereis. Früher war der überwiegende Teil mehrjähriges mehrere Meter dickes Eis, mittlerweile gibt es fast nur noch einjähriges Eis mit etwa zwei Metern Dicke. In 50 Jahren gingen vom Volumen her drei Viertel des Meereises verloren.

Welche Ereignisse aus den fünf Jahren sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Die Ministerkonferenz zur Arktisforschung, die wir im Auftrag des Bundesforschungsministeriums in Berlin mitorganisiert haben. Das ist ein Treffen der Forschungsminister aller Länder, die Arktisforschung betreiben. 25 Länder waren vertreten und haben im Rahmen einer zweitägigen Konferenz eine gemeinsame Erklärung verfasst, in der sich die Minister auf Themen fokussiert haben, bei denen die Zusammenarbeit verstärkt werden soll. Auch Indigene waren dabei.

Es war für uns ein ganz großes Highlight, das wissenschaftlich vorzubereiten. Wir haben einen Tag in Berlin mit Wissenschaftlern der beteiligten Länder gehabt, dessen Ergebnisse die Grundlage für die Ministerkonferenz gebildet haben. Die Konferenz ist ein Prozess, der alle zwei Jahre passiert, darum ist das eine bleibende Aktivität.

Krieg in der Ukraine gefährdet langjährige Forschungsprojekte

Wie wirkt sich aktuell der russische Angriff auf die Ukraine auf die Arktis aus?

Das ist auch für die Arktisforschung und Arktispolitik ein dramatischer Einschnitt, weil sämtliche Zusammenarbeit mit Russland eingefroren ist. Wir werden absehbar nur noch ohne Russland in der Arktis forschen können. Im Arktischem Rat hat aktuell Russland sogar den Vorsitz. Der Arktische Rat kann ohne Russland nicht weiterarbeiten, da Entscheidungen einstimmig sein müssen. Der Rat überlegt gerade, wie man zu siebt weiterarbeiten kann. Viele Projekte zu nachhaltiger Entwicklung und Forschung in der Arktis können momentan nicht durchgeführt werden. Man stellt sich gerade komplett neu auf.

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Auch das AWI ist natürlich davon betroffen, da die deutsch-russische Forschung derzeit auf Eis gelegt ist. Wir müssen sehen, ob wir Forschung von Sibirien nach Kanada, Alaska oder Grönland verlegen. Langzeitdatenreihen brechen ab, wir mussten Ausrüstung schnell zurückholen, um Material und Daten retten zu können.

Worauf sollte sich die Arktisforschung in den kommenden fünf Jahren konzentrieren – und warum?

Ein großes Thema ist die Verbesserung von Beobachtungsnetzwerken und die Bereitstellung von Daten. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet das von der EU finanzierte Projekt Arctic PASSION. Mit 15 Millionen Euro Fördermitteln wollen wir ein panarktisches Beobachtungssystem aufbauen. Uns fehlen zirkumarktische Datenreihen zu verschiedenen Prozessen, die wir brauchen, um Prognosen und Modelle zu verbessern. Das ist immer auch wichtige Priorität der Forschungspolitik gewesen, zum Beispiel der Ministerkonferenzen zur Arktisforschung. Das Projekt wird vom AWI koordiniert. Unser Teil ist der Dialog mit Politik.

Ein ganz großes Thema bleibt außerdem, wie sich die Änderungen in der Arktis auf unser Klima auswirken, und auch zum Permafrost ist Deutschland besonders stark in der Forschung. Da geht es um die Treibhausgasemissionen. Grönland ist auch wichtig, weil es Bezug zu unseren Lebensbedingungen hat: Das Schmelzen des grönländischen Inlandseises, wie schnell und wie viel schmilzt, beeinflusst den Meeresspiegelanstieg – diesbezüglich ist es derzeit ein Hauptfaktor. Wie wird sich das weiterentwickeln?

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Dritter Schwerpunkt ist das Meereis wegen der atmosphärischen Zirkulation. Meeresmüll und Mikroplastik sind weitere Themen, bei denen das AWI sehr stark vertreten ist.

Über den Experten:
Volker Rachold ist promovierter Geochemiker und arbeitet seit 1994 beim AWI. Anfänglich hat der heute 58-Jährige zu Flüssen in Sibirien geforscht und sich später mit dem Permafrost und den Küsten in Sibirien beschäftigt. Am Aufbau der Deutschland-Russland-Zusammenarbeit am AWI war Rachold ebenfalls beteiligt. Danach arbeitete er zehn Jahre als Direktor des International Arctic Science Committee, woraus der enge Kontakt zur Politik entstand. Rachold hat das Konzept für das Arktisbüro mit ausgearbeitet, das er seit dessen Gründung vor fünf Jahren leitet.

Verwendete Quellen:

  • Website des Deutschen Arktisbüros
  • Website des Arktischen Rats
  • Die Bundesregierung: Leitlinien deutscher Arktispolitik
  • Deutsches Arktisbüro: Tourismus in Polarregionen
  • Website des Projekt Arctic PASSION
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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