• Die Verschreibung des Medikaments Tilidin an die Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen ist innerhalb von zwei Jahren von 100.000 auf mehr als drei Millionen Tagesdosen gestiegen.
  • Gleichzeitig wird das Medikament im Deutschrap glorifiziert. Gibt es einen Zusammenhang?
Eine Analyse

Mehr Musik-News finden Sie hier

Mehr News zu Stars & Unterhaltung

Eine bestimmte Altersgruppe scheint das Schmerzmittel Tilidin für sich entdeckt zu haben: Der Gebrauch des Mittels ist bei den 15- bis 20-Jährigen in zwei Jahren um ein 30-faches angestiegen. Das zeigen Daten der gesetzlichen Krankenkassen, die dem Reportageformat STRG_F vorliegen.

Demnach lag die Zahl der ärztlich verordneten Tagesdosen bei dieser Altersgruppe im Jahr 2017 noch bei 100.000 - zwei Jahre später bei mehr als drei Millionen Dosen.

Tilidin ist ein synthetisch hergestelltes Opioid. Es wird bei Patienten eingesetzt, die unter starken Schmerzen leiden, etwa nach einem schweren Unfall oder einer Operation. Woher also kommt der plötzliche Anstieg bei den jugendlichen Konsumenten? Steht ein möglicher Missbrauch von Tilidin im Raum?

Tilidin kann spezielle Nebenwirkung haben

Der Suchtmediziner Michael Janßen behandelt in Berlin Neukölln Tilidin-Abhängige. "Das Medikament wirkt im zentralen Nervensystem und bewirkt dort eine deutliche Schmerzreduktion. Als Nebenwirkung des Schmerzmittels, und da sind wir dann beim Missbrauch, kann es auch eine psychotrope Wirkung haben. Das sind Wirkungen, die sich psychisch bemerkbar machen", erklärt er.

In erster Linie seien das eine euphorische, gehobene Stimmung und eine Ausgeglichenheit, sagt Janßen. "Die psychotrope Wirkung, die eigentlich eine Nebenwirkung der Substanz ist, wird beim missbräuchlichen Konsum zur Hauptwirkung."

Auch jüngeren Menschen wird Tilidin als Schmerzmittel verschrieben. Allerdings sollte das Opioid beim Arztbesuch nicht leicht zugänglich gemacht werden, betont Janßen. Jede Verordnung von opiathaltigen Schmerzmitteln bedürfe einer sorgfältigen Prüfung durch die verordnende Ärztin oder den verordnenden Arzt - erst recht bei Minderjährigen. "Besonders bei Tilidin in Tropfenform, bei dem bekannt ist, dass es einen missbräuchlichen Konsum gibt", betont er.

Ein großes Problem sind gefälschte Tilidin-Rezepte, die im Darknet verfügbar sind. Diese können bestellt und in den Apotheken eingelöst werden. In Krankenkassenstatistiken tauchen die Rezepte genauso auf wie legale Rezepte. Es besteht also ein illegaler Markt mit dem Opioid, der nicht kontrollierbar ist.

Auch, wer die Kunden im Darknet sind, lässt sich nicht feststellen. Jedoch lässt sich in den sozialen Medien ablesen, dass Tilidin unter Jugendlichen durchaus eine gewisse Popularität besitzt.

Tilidin als Statussymbol und Helfer im Alltag

Es scheint, als sei das Medikament zu einer Art Statussymbol geworden. Auf Instagram kursieren Bilder von Tilidin-Blistern. Aber warum ist man stolz, zur Riege der Konsumenten zu gehören? Ein Blick in die Deutschrap-Szene könnte Aufschluss geben.

"Gib mir Tilidin, ja, ich könnte was gebrauchen Wodka-E, um die Sorgen zu ersaufen", rappen Capital Bra und Samra in ihrem Hit "Tilidin", der auf YouTube mehr als 74 Millionen Mal geklickt wurde und in den Single-Charts auf Platz Eins landete. In der Deutschrap-Szene wird das Opioid zu einem Helfer im Alltag stilisiert.

Laut ihrer Texte nehmen die Rapper das Medikament, um Sorgen und Einsamkeit zu vertreiben. Da wird Tilidin in Kombination mit Amphetaminen genommen, wie in Bushidos "Mitten in der Nacht".

In den Texten von Kollegah, Capital Bra, Bushido und Co. wird Tilly oder Darby, wie Tilidin in der Szene genannt wird, mit anscheinend erstrebenswerten Dingen wie Rolex-Uhren und Maseratis in einem Satz genannt. Nicht zuletzt verhilft es zu "Street Credibility" - dem Ansehen auf der Straße -, das den Gangsterrappern sehr am Herzen zu liegen scheint.

Seit 2017 spielt Tilidin im Deutschrap immer häufiger eine Rolle. Zwar wurde auch schon im Jahr 2012 über das Medikament gerappt, aber durch den Rapper Capital Bra hat sich eine neue Dynamik entfaltet.

Die Texte der Rapper sind Teil ihrer Kunst, genau wie ihre Gangster-Attitüde und die tiefergelegten Autos und Rolex-Uhren in ihren Videos.

Nicht außer Acht lassen sollte man zum einen den Einfluss der Rapper, den sie auf ihre Fans haben, zum anderen die Verantwortung. Denn der Missbrauch des Medikaments durch Jugendliche kann problematisch werden.

Wenn das Leben nur noch mit Tilidin erträglich ist

Der rein hedonistische Gebrauch des Medikaments ist nach Janßens Auffassung nicht zwangsläufig besorgniserregend. Schwierig wird es, wenn die Jugendlichen in eine Abhängigkeit geraten. "Sie brauchen immer besondere Gründe für den regelmäßigen Konsum. Meist liegen diese im sozialen oder psychischen Bereich. Beispiele sind Traumatisierungen oder psychische Störungen, die durch den Konsum der Substanz besser ertragen werden können. Der Gebrauch von Tilidin ist dann eine Selbstmedikation."

Wenn die Jugendlichen Tilidin nehmen, um ihr Leben erträglich zu machen, stecken sie womöglich in einer Abhängigkeit.

Tilidin als Mittel zur Schmerzhemmung bei Prügeleien

Für Sascha Jost von der Drogenberatungsstelle Confamilia in Berlin ist der Tilidin-Missbrauch nichts Neues. In Berlin ist das Problem seit mehr als zehn Jahren bekannt. Die Gründe für den Konsum lassen sich seiner Meinung nach nicht pauschalisieren, da individuelle Geschichten hinter jeder Abhängigkeit stecken.

"Ich hatte auch schon einen, der gesagt hat: 'Herr Jost, ich brauche das, weil ich mich relativ viel kloppe und wenn ich mich prügele, ist es besser, wenn ich Tilidin genommen haben'", schildert Jost die Begegnung mit einem jungen Konsumenten. "Durch das Medikament greifen die Schmerzrezeptoren nicht mehr so stark", erklärt er.

Dass Tilidin zum Aufputschen vor Einbrüchen, Schlägereien oder anderen Straftaten konsumiert wird, ist kein Novum. Bereits 2008 berichtete der "Spiegel" von der "Trend-Droge", mit der sich jugendliche Gewalttäter in Stimmung bringen. Den Sound zur Schlägerei auf Tilidin liefert Capital Bra mit dem Song "Darby". Darin rappt er: "Darby, ich will jeden Tropfen, Deckel auf die Zähne klopfen, mich danach durch die Szene boxen, bis Rapper ihre Zähne kotzen."

Capital Bra und seine Kollegen haben eine Vorbildfunktion

Dass die Glorifizierung des Medikaments durch die Rap-Szene eine Auswirkung auf das Konsumverhalten der Fans hat, kann sich Jost vorstellen: "Ich glaube, dass gerade bei jungen Menschen die Peergroup eine wichtige Rolle spielt. Wenn ich Liedtexte höre und meine Freunde hören das auch, dann wird man natürlich auch beeinflusst."

Die Künstler vermitteln Werte und bieten ihren Fans Orientierung. Damit haben sie auch eine Verantwortung für ihre Fans: "Ich finde, alle Menschen des öffentlichen Interesses haben ein Stück weit die Verantwortung, genau zu überlegen: Was geben sie preis und was hat das für eine Wirkung?", findet Jost.

Ist den Künstlern nicht bewusst oder schlicht egal, dass ihre Texte einen Einfluss auf das Verhalten ihrer Hörer haben könnten? Nach der Dokumentation von STRG_F versuchte Capital Bra, sein angekratztes Image in einem Interview mit dem Funkteam zu glätten. Er habe mit seinen Texten nicht zum Tilidin-Konsum aufrufen wollen, beteuert der Rapper. Inzwischen gibt es auch Songs, die sich kritisch mit dem Medikament auseinandersetzen. Beispielsweise Bonez MC mit dem Song "Tilidin Weg" oder Capital Bras und Samras "Lieber Gott".

Ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Glorifizierung Tilidins in Rap-Texten und der vermehrten Verschreibung des Medikaments bei Jugendlichen gibt, lässt sich nicht belegen.

Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske stellt in einem wissenschaftlichen Paper allerdings auch fest: "Mir wäre […] kein nachvollziehbarer medizinischer Grund plausibel, der einen solchen Anstieg erklären könnte, gerade auch in dieser Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen."

Über die Experten: Michael Janßen ist Schmerzmediziner in Neukölln, Berlin und arbeitet mit Tilidin-abhängigen Menschen.
Sascha Jost ist Sozialpädagoge und der Leiter der Suchtberatungseinrichtung "Confamilia" in Neukölln, Berlin, wo er mit alkohol- und medikamentenabhängigen Menschen arbeitet.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Michael Janßen
  • Gespräch mit Sascha Jost
  • Youtube.com: STRG_F: "Tilidin: Wie läuft das Geschäft mit dem Schmerzmittelmedikament?"
  • Spiegel.de: "Trend-Droge lässt Jugendliche durchdrehen"
  • Drugcom.de: "Tilidin: Wirkung und Anwendung"
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.