Deutschlands berühmtester Literaturkritiker ist tot: Marcel Reich-Ranicki starb am Mittwoch im Alter von 93 Jahren. Viele Jahrzehnte lang war er die zentrale Instanz der deutschen Bücherszene. Der scharfzüngige Kritiker war mit seiner direkten Art geachtet, aber auch gefürchtet und bei manchem Schriftsteller verhasst.

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Die Todesnachricht hatte der Journalist und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher zuerst bei Twitter vermeldet. "Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren gestorben" so die kurze Meldung. Anschließend schrieb Schirrmacher noch: "Wir trauern alle. Noch vor 2 Stunden habe ich ihn besucht."

Bundespräsident Joachim Gauck würdigte Reich-Ranicki mit den Worten: "Er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen." Die deutsche Literatur verliere "ihren leidenschaftlichsten Streiter und ihren entschiedensten Anwalt".

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich tief betroffen. "Wir verlieren in ihm einen unvergleichlichen Freund der Literatur, aber ebenso der Freiheit und der Demokratie", erklärte Merkel. "Dass dieser Sohn einer jüdischen deutsch-polnischen Familie, der Eltern und Verwandte in den Vernichtungslagern der Nazis verloren hatte, sein Zuhause wieder in Deutschland fand und unserem Land so viel gegeben hat, gehört zu den Ereignissen der Nachkriegszeit, für die wir nur dankbar sein können." Unvergessen bleibe Reich-Ranickis Rede aus Anlass des Holocaust-Gedenktages im Jahre 2012 im Bundestag.

Kulturstaatsminister Bernd Neumann nannte Reich-Ranicki eine "publizistische Institution". Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) würdigte ihn als einen "ganz Großen der deutschen Literaturkritik". Seine stets klare Sprache habe über viele Jahrzehnte die Debatten in Deutschland bereichert.

SPD-Chef Sigmar Gabriel würdigte Reich-Ranicki als "scharfsichtigen Kritiker, einen brillanten Literaturvermittler und eine so faszinierende wie vielschichtige Persönlichkeit". Deutschland verliere einen "bedeutenden Publizisten und großen Menschen".

ZDF-Intendant Thomas Bellut erklärte, Reich-Ranicki sei seinem Motto "Die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritiker" immer treu geblieben. Mit seiner deutschen, polnischen und jüdischen Biografie sei er auf "eine ganz außerordentliche Weise mit der Geschichte und Kultur unseres Landes" verbunden.

Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 im polnischen Wloclawek geboren, lebte aber ab 1929 bei Verwandten in Berlin. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er ins Warschauer Ghetto umgesiedelt. Dort lernte er seine spätere Frau Teofila kennen. Nach dem Krieg kehrte er über Umwege nach Deutschland zurück, wo er als Literaturkritiker bei der FAZ seine Karriere zum "Literatur-Papst" begann.

Vor allem durch seine Teilnahme an Treffen der "Gruppe 47", einer Schriftsteller-Gruppe, zu der unter anderem Günter Grass, Siegfried Lenz oder Heinrich Böll gehörten, wurde Reich-Ranicki zu einem großen Namen in der deutschen Literatur. 1959 überwarf er sich mit dem damaligen Leiter der FAZ-Literaturredaktion, Friedrich Sieburg, und wechselte daraufhin zur "Zeit".

Dort festigte er seinen Ruf als einer der bedeutendsten Literaturkritiker des Landes. 1973 kehrte er als Leiter der Literaturredaktion zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung zurück.

Die größte Aufmerksamkeit erfuhr Reich-Ranicki aber als Mitglied - und Aushängeschild - des "Literarischen Quartetts" im ZDF. 13 Jahre lang erklärten uns Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Marcel Reich-Ranicki mit jeweils einem Gast pro Sendung, welche Bücher wir lesen und welche wir besser ignorieren sollten. Empfehlungen der Runde wurden zu Bestsellern, die besprochenen Bücher waren am Tag nach der Ausstrahlung in den Läden regelmäßig vergriffen.

Umgekehrt gab es immer wieder große Diskussionen, wenn Werke bedeutender Autoren verrissen und dadurch zu Ladenhütern wurden: Günther Grass kündigte Reich-Ranicki nach der Besprechung von "Ein weites Feld" die Freundschaft, Martin Walser veröffentlichte seine Mordfantasien in dem Buch "Tod eines Kritikers".

Auch Reich-Ranicki selbst schaffte es in die Bestsellerlisten: Seine Autobiografie "Mein Leben" wurde ein großer Erfolg, der 2009 mit Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler verfilmt wurde. Seinen Literatur-Kanon, den er für den "Spiegel" zusammenstellte, bezeichnete er selbst als sein "Opus Magnum", mit dem er die Meilensteine der deutschen Literatur einer breiten Öffentlichkeit vermittelte.

In seiner langen Karriere erhielt Reich-Ranicki zahllose Preise, darunter so unterschiedliche Auszeichnungen wie den "Thomas-Mann-Preis", das große Verdienstkreuz mit Stern und den Bambi. Den Deutschen Fernsehpreis für sein Lebenswerk im Jahr 2008 lehnte er dagegen bei der Preisverleihung ab - mit der Begründung: "Ich gehöre nicht in diese Reihe (der Ausgezeichneten; Anm. d. Red.). Ich finde es schlimm, dass ich das hier heute Abend erleben musste." Eine Äußerung, die ihm viel Lob, aber auch viel Kritik einbrachte und damit das Schaffen Reich-Ranickis perfekt symbolisiert.

Nach dem Tod seiner Frau Teofila im April 2011 war es ruhig um Reich-Ranicki geworden. Im März 2013 wurde bekannt, dass der "Literatur-Papst", wie ihn die "Bild" taufte, an Krebs erkrankt war.

(Mit Material der AFP)

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