Jule Brand macht während der Olympischen Spiele einen Entwicklungssprung. Die schnelle Dribblerin hat von Horst Hrubesch eine wichtige Rolle bekommen und füllt diese mit viel Verantwortung aus. Exemplarisch für die Nationalelf sind auch die Bereiche, in denen die 21-Jährige sich noch verbessern kann.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Annika Becker (FRÜF) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es läuft die 118. Minute der Verlängerung, die USA führen in der 95. Minute mit 1:0. Deutschland braucht dringend ein Tor, um eine Chance auf Gold zu wahren. Einen langen Ball von Bibiane Schulze Solano legt Janina Minge ab für Jule Brand.

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Die 21-Jährige ist seit Beginn des Spiels auf dem Platz, die Müdigkeit ist ihr anzumerken. Sie setzt trotzdem nochmal zum Sprint an, der Weg in den Sechzehner ist frei. Bevor sie in die Lücke stoßen kann, wird sie gefoult. Der anschließende Freistoß bringt Deutschlands gefährlichste Chance des gesamten Spiels, ein Kopfball von Laura Freigang trifft aber nur das ausgestreckte Bein von Torhüterin Alyssa Naeher. Kurz darauf ist Schluss.

Sie können trotz der Niederlage stolz auf dieses Halbfinale sein, nachdem der Tag mit den Ausfällen von Alexandra Popp und Lea Schüller denkbar schlecht begonnen hat. Nach der 1:4-Niederlage in der Gruppenphase war mit so einer engen Partie nicht zu rechnen.

Doppelspitze Jule Brand und Nicole Anyomi

Die beiden Ausfälle nötigten Horst Hrubesch einige Umstellungen ab, unter anderem eine, die er schon länger einmal ausprobieren wollte: Jule Brand als zentrale Sturmspitze. Auf dem Papier stand sie neben Nicole Anyomi als Doppelspitze im 4-4-2.

Beide hatten zunächst einmal wichtige Defensivaufgaben und blockierten die möglichen Passwege der US-Amerikanerinnen auf die beiden zentralen Mittelfeldspielerinnen Sam Coffey und Lindsay Horan. Sie machten ihre Sache sehr viel besser als Sjoeke Nüsken und Lea Schüller beim Aufeinandertreffen während der Gruppenphase; ein entscheidendes Puzzleteil dafür, dass das Spiel so eng war. Auch wenn die USA als klare Favoritinnen über die gesamte Partie trotzdem deutlich besser waren.

Weil Horan und Coffey so selten an den Ball kamen und das deutsche Mittelfeld außerdem die US-Offensive isolierte, waren nicht viele gefährliche Pässe auf Sophia Smith und Trinity Rodman möglich. Sie hatten mit ihrer Geschwindigkeit das erste Spiel noch zu einer Tortur für die deutschen Außenverteidigerinnen gemacht. Jule Brands Qualitäten als Pressing-Spielerin sind auch aus der Bundesliga bekannt, während der Olympischen Spiele hat die junge Angreiferin aber in diesem Bereich noch einmal ein ganz anderes Level erreicht.

Jule Brand, die Balldiebin

Brand setzt ihre Geschwindigkeit und ihre Technik immer wieder für defensive Duelle ein, keine andere Spielerin Deutschlands führte davon im Halbfinale mehr und luchste den USA so oft den Ball ab. Neu daran ist, dass Brand auch die harten Zweikämpfe nicht scheut.

Das ließ sich bereits in den vorherigen Partien beobachten und funktioniert auch deshalb so gut, weil der Rest des Teams sie in diesen Situationen absichert und Brands Gegenspielerinnen den Ausweg abschneidet. Entscheidend dafür sind auch die Kommandos von Giulia Gwinn, wann das Pressing starten soll. Ihre Rufe schallten in Lyon immer wieder laut durchs Stadion. In Nicole Anyomi hatte Jule Brand gegen die USA zudem eine ebenso leidenschaftlich verteidigende Partnerin neben sich.

In der Offensive zeigte sich dann allerdings exemplarisch, woran es im deutschen Spiel die ganze Zeit über hakt. Die Formation Deutschlands war im Angriff ein 4-3-3, weil sich Klara Bühl deutlich in die Offensive einschaltete. Häufig war der Ball aber schon wieder weg, bevor es dazu kommen konnte. Denn zu häufig, wenn Brand Nicole Anyomi mit einem Steilpass schicken wollte (oder auch umgekehrt), war das Abspiel zu lang, zu ungenau, zu überhastet.

Reaktion auf öffentliche Kritik

Und je länger das Spiel und die Verlängerung gingen, desto deutlicher wurde auch, was das fünfte Spiel unter Druck in dreizehn Tagen bei Temperaturen jenseits von 33 Grad Celsius für den Kopf bedeuten kann: Einfache Passwege wurden übersehen oder Brand versuchte noch einen Querpass im Strafraum, der schon wieder geblockt wurde, anstatt einfach mal aufs Tor zu schießen.

Das sind Dinge, an denen Brand generell noch arbeiten muss. Trotzdem sprechen die Einsatzzeiten während der Olympischen Spiele für ihre positive Entwicklung im letzten Halbjahr. Ausgewechselt wurde sie nur im Gruppenspiel gegen Sambia, ansonsten wollte Horst Hrubesch nicht sie verzichten. Brand ging gegen Kanada und die USA zweimal über die vollen 120 Minuten.

Dieser Aufschwung kommt, nachdem Wolfsburgs Direktor Frauenfußball Ralf Kellermann sie im November 2023 in einem Interview mit dem "Kicker" ungewohnt scharf öffentlich kritisiert hatte: "Jule hat keine Konstanz in ihren Leistungen, deutet immer wieder ihr Potenzial an, hat aber noch keinen Weg gefunden, dieses Potenzial verlässlich auf den Platz zu bringen."

Er fügte außerdem hinzu: "Wenn Jule eine Top-Spielerin werden will, muss sie hart an sich arbeiten und zu 100 Prozent für den Fußball leben. Bei dem, was alles auf sie einprasselt, ist das nicht so einfach. Wir helfen Jule bestmöglich, aber ihr Umfeld können wir nicht beeinflussen."

Die "Golden Girl"-Auszeichnung wog schwer

Brand sprach im Februar 2024 in einem Interview mit der "Wolfsburger Allgemeinen Zeitung" über diese Kritik und die Erwartungshaltung an sich selbst: "Das mit dem Umfeld habe ich anders gesehen, weil ich da viele Menschen habe, die mir sehr helfen, gerade wenn es mal nicht läuft. Ansonsten stimmte ich ihm komplett zu."

Sie habe am Anfang ihrer Karriere in Hoffenheim einfach befreit aufspielen können, weil niemand sie kannte. "Dann ging es schnell bergauf, es ist viel auf mich eingeprasselt - bis zu dieser Golden-Girl-Sache", sagte Brand. Mit der Auszeichnung als bestes Nachwuchstalent, die vom italienischen Sportmagazin "Tuttosport" verliehen wird, wurde Brand im Oktober 2022 ausgezeichnet. Sie habe plötzlich gemerkt, dass sie etwas zu verlieren habe und es eine Erwartungshaltung an sie gebe. "Das war und ist nicht leicht, und ich weiß, dass meine Leistung nicht immer zu dieser Erwartungshaltung gepasst hat."

Aktuell zahlt Brand das von Horst Hrubesch in sie gesetzte Vertrauen zurück. Die Frage, die sich auch nach den Auftritten bei Olympia stellt, lautet: Wohin kann die Reise für Jule Brand noch gehen?

Verwendete Quellen:

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