In seinem ersten Spiel als Englands Nationaltrainer gelingt Thomas Tuchel ein Sieg gegen Albanien. Tuchel beweist ein glückliches Händchen mit einem Debütanten, der versprochene mutige Offensivfußball ist aber nur in Ansätzen zu sehen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Christian Stüwe sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als am Freitagabend das mit 82.378 Menschen vollbesetzte Wembley-Stadion die englische Nationalhymne sang, wirkte Thomas Tuchel stolz und ergriffen. Dann huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. Vermutlich hatte der 51-Jährige in diesem Moment das riesige Banner erspäht, mit dem die englischen Fußballfans ihren neuen Nationaltrainer im Rahmen einer Choreographie freundlich begrüßten.

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"Welcome to the Home of Football, Thomas", stand darauf in großen Buchstaben geschrieben. Tuchel selbst sang bei "God Save the King" nicht mit. Das Recht darauf müsse er sich erst verdienen, hatte er im Vorfeld der WM-Qualifikationspartie gegen Albanien erklärt.

Tuchel, der bis zum Sommer 2024 Trainer des FC Bayern München war und am 1. Januar 2025 als erster Deutscher das Amt des englischen Nationaltrainers übernommen hatte, wirkte vor seinem Debüt mit den "Three Lions" hochkonzentriert.

In einer dunkelblauen Kapuzenjacke stand er am Spielfeldrand, kaugummikauend, die Arme verschränkt, dann wieder wild gestikulierend. So wie man ihn von seinen Trainer-Stationen in Deutschland, England und Frankreich kennt.

Debütant Myles Lewis-Skelly erzielt das erste Tor in der Ära Tuchel

In seine erste Startelf beorderte er mit Linksverteidiger Myles Lewis-Skelly vom FC Arsenal und Innenverteidiger Dan Burn von Newcastle United zwei Debütanten, dazu Rückkehrer Marcus Rashford, der zuletzt vor einem Jahr für England gespielt hatte.

Besonders die Entscheidung für Lewis-Skelly war mutig, der 18-Jährige hatte bis zu seinem Debüt am Freitag gerade einmal 14 Spiele in der Premier League absolviert. Doch Tuchel bewies ein gutes Händchen, Lewis-Skelly sorgte für den ersten großen Moment in der Ära des neuen Trainers. Auf der linken Außenbahn sprintete er in der 20. Minute in die Tiefe, Jude Bellingham spielte genau im richtigen Moment einen Steilpass und Lewis-Skelly schob zum 1:0 ein.

Tuchel jubelte kurz mit geballten Fäusten, wenige Sekunden später gab er einem seiner Spieler an der Außenlinie schon wieder Anweisungen.

Der von Thomas Tuchel versprochene Offensivfußball ist nur in Ansätzen zu sehen

Die Art und Weise, wie das Tor herausgespielt wurde, dürfte ziemlich genau nach dem Geschmack des Trainers gewesen sein. Schließlich hatte Tuchel im Vorfeld direkten, mutigen und begeisternden Offensivfußball angekündigt. Und mit erstaunlich offenen Worten seinen Vorgänger Gareth Southgate kritisiert, unter dem das englische Team trotz mehrerer Final- und Halbfinalteilnahmen zu ängstlich aufgetreten sei.

Diese Kritik könnte Tuchel aber auch schnell auf die Füße fallen. Die Ansprüche in England sind enorm, der Trainer soll mit der starbesetzten Truppe die Durststrecke beenden, die seit dem WM-Gewinn 1966 andauert. Der Titel ist das Ziel bei der Weltmeisterschaft in den USA, Kanada und Mexiko im kommenden Jahr.

Dafür wird sich die Mannschaft weiter steigern müssen. Am Freitagabend klappte noch längst nicht alles, der versprochene Offensivfußball war nur im Ansatz zu sehen. Ein klarer Unterschied zu den Auftritten unter Southgate war noch nicht zu erkennen.

Der Start in die Ära Tuchel ist gelungen – mehr aber auch nicht

Gegen extrem tiefstehende Albaner hatten die im vom Tuchel bevorzugten 4-2-3-1-System agierenden "Three Lions" fast 75 Prozent Ballbesitz. Der Ball zirkulierte immer wieder um den Strafraum herum, in der ersten Hälfte kamen 437 Pässe an, was dem Statistikanbieter "Opta" zufolge ein neuer Rekord für Englands Nationalteam ist.

Auch wenn dies als ein erster Hinweis auf Tuchels Handschrift zu werten ist, tat sich die Mannschaft sehr schwer, Chancen herauszuspielen. In der Schlussphase setzte sich der Trainer dann eine dunkelblaue Kappe auf, vielleicht brachte es Glück. Kapitän Harry Kane, mit dem Tuchel schon beim FC Bayern zusammengearbeitet hatte, erzielte wenig später nach einer Hereingabe den 2:0-Endstand (77.).

Ein absolut verdienter Sieg, der Start in die WM-Qualifikation und die Ära Tuchel ist gelungen. Mehr aber auch nicht, angesichts der großen Erwartungen sprang der Funke noch nicht wirklich über. Die Stimmung im Stadion war eher verhalten, wie in England durchaus üblich, leerten sich die Sitzreihen in den letzten Spielminuten bereits deutlich.

Englands Presse: "Nicht gerade der Nervenkitzel, den uns Tuchel versprochen hatte"

"Es war nicht gerade der Nervenkitzel, den uns Thomas Tuchel versprochen hatte", schrieb das Boulevard-Blatt "The Sun", bescheinigte Tuchel aber dennoch ein ordentliches Debüt.
Tuchel selbst ballte nach Abpfiff ein weiteres Mal kurz die Fäuste, dann tauschte er sich freundlich mit Albaniens brasilianischem Nationaltrainer Sylvinhio aus und lachte.

Im Interview nach dem Spiel mit "ITV" wurde er aber schnell wieder ernst. "Wir können es besser machen. Und wir müssen es besser machen", nahm der Trainer sich und die Mannschaft in die Pflicht. Vermutlich wird es noch ein Weilchen dauern, bis Thomas Tuchel sich im Recht sieht, bei der englischen Nationalhymne mitsingen zu dürfen.

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