Heute ist Karl-Heinz Rummenigge der starke Mann beim FC Bayern München. Als er im zarten Alter von 18 Jahren beim damaligen Meister und Europapokalsieger eintrifft, ahnt dies niemand. Rummenigge schlottern angesichts des Staraufgebots die Knie. Er wird belächelt und verhöhnt. Zu seinem 65. Geburtstag haben wir die besten Anekdoten gesammelt.

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Als im Sommer 1974 ein 18-jähriges Bürschchen aus dem ostwestfälischen Lippstadt in der Weltstadt München auftaucht, steht der FC Bayern München gerade auf dem Gipfel seiner sportlichen Macht: Dreimal in Folge hat er den deutschen Meistertitel gewonnen. Das hat es zuvor noch nicht gegeben.

Zudem steht erstmals in der Geschichte des Klubs der berühmte Henkelpott in der Pokalvitrine, Zeichen des Sieges im Europapokal der Landesmeister. Zur Krönung dürfen sich sechs Akteure des FC Bayern seit dem Endspielsieg über die Niederlande am 7. Juli 1974 im heimischen Olympiastadion Weltmeister nennen.

"Rotbäckchen", "Bratwurst" und "Rummelfliege"

Karl-Heinz Rummenigge steht damals "in der Hierarchie des FC Bayern auf der untersten Sprosse", wie er im Februar 1983 in einem Interview mit dem "Playboy" rekapituliert - und schaut voller Ehrfurcht zu Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Sepp Maier auf. Weil er dabei auffallend an Gesichtsfarbe gewinnt, ist Rummenigge schnell das "Rotbäckchen".

Beckenbauer schimpft ihn überdies eine "Bratwurst" und prophezeit: "Das wird nie einer." Beckenbauers persönlicher und Bayern-Manager Robert Schwan beleidigt den Neuen als "Dummkopf" und WM-Siegtorschütze Müller fragt: "Was hams'n uns da für einen gschickt?"

Als Rummenigge seinen Sturmkollegen um die Vermittlung eines gebrauchten Autos fragt und Müller dabei siezt, antwortet der "Bomber der Nation": "Du kannst schon einen BMW bekommen. Aber nur, wenn du du zu mir sagst."

Auf die Spitze treibt der damalige Trainer Udo Lattek die Demütigungen. Ein 0:1 beim Hamburger SV lässt Titelverteidiger Bayern München zum Ende der Hinrunde am 14. Dezember 1974 in der Tabelle auf den 14. Platz abstürzen.

Der Siegtorschütze der Hamburger heißt Peter Hidien. Er ist Gegenspieler Rummenigges und eigentlich dazu auserkoren, dessen Kreise zu stören. "So frei durfte er Hidien nicht zum Schuss kommen lassen", lässt Lattek gegenüber den Journalisten keinen Zweifel daran, dass er in Rummenigge den Hauptschuldigen an der bereits achten Saisonniederlage sieht.

Aus Rummenigge wird die "Rummelfliege": "Da steht er mit offenem Mund umeinander", ereifert sich Lattek nach der Partie, "und schaut zu, wie der andere das Tor macht. Diese Rummelfliege!"

"Rotbäckchen" und "Rummelfliege" bleiben als Diffamierungen lange am späteren Weltklassestürmer hängen und schmerzen ihn: "Ich war mit achtzehn Jahren, von einem Amateurverein kommend, bestimmt noch nicht so professionell, wie ich es vielleicht hätte sein sollen."

Sein Vater hatte ihm "früh eingebläut", wie Thomas Hüetlin es in seinem Buch "Gute Freunde - Die wahre Geschichte des FC Bayern München" 2006 schreibt, "dass man im Leben nur dann etwas erreicht, wenn man gehorsam seine Pflicht erledigt und ansonsten den Mund hält".

Dettmar Cramer formt den späteren Weltstar Karl-Heinz Rummenigge

Es ist Rummenigges Glück, dass Lattek die sportliche Talfahrt nicht übersteht. Die Partie in Hamburg ist bis zu seinem Comeback in München 1983 Latteks letzte als Bayern-Trainer. Der Verein verpflichtet anstelle des Meistermachers der Jahre 1972 bis 1974 Dettmar Cramer - als gebürtiger Dortmunder Westfale wie Rummenigge.

"Er hat mich getrieben", verriet Rummenigge anlässlich seines 60. Geburtstag 2015 in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks. "In einer normalen Woche hatten die Spieler damals sechs bis sieben Trainingseinheiten. Ich hatte zwölf." Cramer sieht Rummenigges Talent und merzt dessen Schwächen aus (linker Fuß und Kopfball). "Die Karriere, die ich dann anschließend machen durfte (...), die hatte ich in erster Linie Dettmar Cramer zu verdanken."

Cramer aber hat die Bayern längst und auch die Bundesliga vorübergehend verlassen, als Karl-Heinz Rummenigge in die Saison 1980/81 als Europameister, Deutscher Meister und Torschützenkönig der Bundesliga startet. "Rosa Zeiten für den kühlen Blonden" überschreibt der "kicker" in seinem Jahrbuch das Porträt über Rummenigge in der Saison 1979/80.

1980/81: Spannender Kampf um die Torjägerkanone gegen Burgsmüller

26 Bundesligatore sind Bayerns Stürmerstar 1979/80 gelungen, 20 dem Dortmunder Manfred Burgsmüller. Vor dem ersten Bayern-Heimspiel 1980/81, einem 5:3 über den BVB, darf Burgsmüller als Kapitän der Borussia Rummenigge eine Auszeichnung der "Welt am Sonntag" als "Spieler der Saison" überreichen - um Rummenigge in der Folge im Kampf um die Torjägerkanone ordentlich einzuheizen.

Das spektakuläre Finish um den Titel des erfolgreichsten Schützen der Bundesliga schreibt Geschichte. Burgsmüller führt die Torjägerliste an 23 von 34 Spieltagen an. Rummenigge nur viermal. Dafür aber dann, als abgerechnet wird.

Aus acht Toren Rückstand nach 27 Spieltagen macht Rummenigge nach 34 zwei Tore Vorsprung. Noch nach 31 Spieltagen führt Burgsmüller mit 26:22 Treffern, doch dann trifft Rummenigge noch siebenmal, Burgsmüller gelingt nur noch ein Treffer.

Paul Breitner tritt Rummenigge in dieser entscheidenden Phase der Saison sogar herrschaftliches Terrain ab und überlässt ihm die Ausführung der Strafstöße. Rummenigge wird damit nicht nur erneut Torschützenkönig, sondern wie schon 1980 Deutscher Meister sowie Europas Fußballer des Jahres.

Er ist längst ein weltweit bekannter Schrecken der Verteidiger, spurtschnell und trickreich, eine Naturgewalt vor dem Tor, obwohl er seine Nervosität vor Spielen mit Ritualen (beim Ankleiden und Einlaufen) bekämpfen muss - oder mit Cognac, der ihn etwa vor dem Europapokal-Finale der Landesmeister 1976 beruhigt.

Die Bayern treffen als Titelverteidiger auf St. Etienne. "Ich war mit meinen 19 Jahren völlig hektisch in der Kabine", erzählte Rummenigge im BR. Trainer Cramer wendet sich an "Medizinmann" Richard Müller. Der Betreuer verabreicht dem hypernervösen Rummenigge zwei Gläschen Cognac. "Es war, glaube ich, nicht auf der Dopingliste. Zumindest hat es niemand moniert", so Rummenigge. Das Spiel in Glasgow gewinnen die Bayern anschließend glücklich mit 1:0.

Alan & Denise setzen Rummenigge ein musikalisches Denkmal

Von Nervosität ist sechs Jahre später im Londoner Wembley-Stadion keine Spur. Rummenigge ist der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft und führt sie am 13. Oktober 1982 mit zwei Toren zu einem 2:1-Sieg über England. Es ist nach 1972 erst der zweite überhaupt für den damaligen Vize-Weltmeister im Mutterland des Fußballs.

Rummenigge trägt der Gala-Auftritt in seinem 61. Länderspiel einen musikalischen Hit ein. Das englische Ehe- und Gesangspaar Alan und Denise Whittle setzt sein Staunen über die Leistung des blonden Wirbelwinds in ein Lied um: "What a man". "Rummenigge", so Alan Whittle in einem "Legenden"-Heft der "11Freunde", "war in diesem Spiel einfach überragend. Er hat uns im Alleingang nass gemacht."

Der Titel des Lieds geht auf den Ausruf des englischen TV-Kommentators nach Rummenigges Treffer zum zwischenzeitlichen 2:0 zurück: "Rummenigge, what a man!" habe, so Denise, sie und ihren Mann "sofort inspiriert. Eine Freundin von uns hatte in dieser Zeit eine Plattenvorführung in Deutschland. Dort haben wir dann auch vorgespielt, und die waren auf Anhieb begeistert."

Im Frühjahr 1983 stieg die Ode an Rummenigge (und dessen "sexy knees") immerhin auf Platz 43 in den deutschen Charts. Inter Mailand habe, so erinnert sich Alan, die gesamten Plattenbestände aufgekauft, als Rummenigge im Sommer 1984 dorthin kam.

Rummenigges Abschiedsgeschenk an die Bayern aber ist nicht dieser Song, sondern der Sieg im DFB-Pokal, vor allem aber die Sanierung des Klubs. Für die damalige Bundesliga-Rekordablöse von 11,4 Millionen Mark geht Rummenigge, der die Bayern zehn Jahre zuvor ganze 17.500 Mark gekostet hat, zu Inter Mailand.

Dort reift das einst so schüchterne Milchgesicht - ähnlich wie sieben Jahre zuvor Beckenbauer in New York - zu einem Mann von Welt. "Ich möchte nicht einen Tag missen, das war die angenehmste Zeit meines Lebens", sagt Rummenigge über die drei Jahre als Spieler in der italienischen Serie A.

Titel holt Inter zwar erst Ende der 80er-Jahre mit Rummenigges deutschen Nachfolgern Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann und Andreas Brehme. Interessanterweise aber startet der FC Bayern ausgerechnet nach dem Verlust seines Kapitäns Rummenigge in der Bundesliga wieder durch und erlebt eine Renaissance.

Der Titelhattrick 1985 bis 1987 geht erneut auf das Konto des Trainers Udo Lattek, der von Rummenigge einst nichts hielt. Und das, obwohl Lattek für die Millionen, die die ehemalige "Rummelfliege" einbringt, nur einen echten Star (Matthäus) und insgesamt "viel Masse, wenig Klasse" bekommt, wie der "kicker" seine Vorschau im Sonderheft 1984/85 überschrieb.

Karriereende bei Servette Genf an der Seite von Lucien Favre

Auch als Rummenigge 1987 letztmals den Verein wechselt, springt kein neuerlicher Meistertitel dabei heraus. Mit Servette Genf landet der zweimalige Vize-Weltmeister in der Schweiz nur auf den Plätzen sieben und acht, setzt sich aber wenigstens im Sommer 1989 mit 24 Treffern noch mal die Torjägerkrone in der Nationalliga A auf.

In Genf spielt Rummenigge zum Ende seiner aktiven Laufbahn übrigens an der Seite des heutigen Dortmunder Trainers Lucien Favre, der nichts lieber täte, als Rummenigges FC Bayern vom Meisterthron zu stoßen.

Jenen FC Bayern, für dessen erdrückende nationale Dominanz im Sommer 2020 angesichts von acht Meisterschaften in Serie und dem Triple aus Bundesliga, DFB-Pokal und Champions League nicht zuletzt auch Rummenigge verantwortlich ist. 1991 feiert er als Vizepräsident sein Comeback an der Isar. Seit 2002 amtiert Rummenigge als Chef des Vorstands, will sich aber zum Jahresende 2021 zu Gunsten einer anderen Vereinslegende zurückziehen: Ex-Torwart Oliver Kahn gehört seit Januar 2020 als eine Art Trainee dem Vorstand an.

Für Rummenigge soll, getreu dem Motto eines Udo-Jürgens-Klassikers, dass mit 66 Jahren das Leben anfange, dann der fußballlose Abschnitt beginnen: "Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich für unersetzlich halten", betont er in einem Gespräch mit der dpa anlässlich seines 65. Geburtstags. "Es ist Teil des Lebens, dass man irgendwann loslassen muss und den Nachfolgern Vertrauen schenkt."

Verwendete Quellen:

  • "Playboy": Interview vom Februar 1983
  • "kicker" vom 16. Dezember 1974
  • Thomas Hüetlin: "Gute Freunde - Die wahre Geschichte des FC Bayern München" (2006)
  • br.de: Vom Rotbäckchen zum Weltklassestürmer (2015)
  • "kicker": Jahrbuch des Fußballs 1980/81
  • "11 Freunde" Legenden: "Die andere Geschichte der Bayern"
  • "kicker": Bundesliga-Sonderheft 1984/85
  • SportBild: "Die größten Deutschen der EM-Geschichte" (2015)
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