Joshua Kimmich soll in der Nationalelf zu seinen Wurzeln zurückkehren - obwohl er ganz andere Ansprüche hat. Auf der Suche nach der Stammelf für die Heim-EM aber bleibt Bundestrainer Hansi Flick kaum mehr Zeit. Egoismen stören da nur.

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Als die Spione am Abend des 6. September die Inhalte des Geheimtests der Nationalmannschaft gegen die eigene U20 verpfiffen, war Joshua Kimmich plötzlich in aller Munde. Bundestrainer Hansi Flick hatte ihn beim 5:0 in nur 3x12 Minuten unter anderem als Rechtsverteidiger eingesetzt. Hört, hört: Es gibt Anzeichen für eine Revolution in der Tradition von Philipp Lahm beim WM-Triumph 2014. Setzen, Sechs? Flicks brisantes Planspiel mit seinem bisherigen Mittelfeldchef und Kapitän drang via "Bild" nach außen.

"Ich bin ein Sechser."

Joshua Kimmich

"Ich bin ein Sechser." Dieser Satz von Kimmich fiel, nachdem Thomas Tuchel ihm öffentlich abgesprochen hatte, derjenigen Unter-Spezies von Sechser anzugehören, die der Bayern-Trainer gerne in sein Spiel einbauen würde. Diese "Holding Six", ein rein defensiv denkender, den Ball nach Eroberung ohne kreative Ambitionen bei der Acht abliefernder Spieler, wollte Kimmich nie sein. Tuchel aber sagte vor dem Bundesligastart auch: "Joshua als Rechtsverteidiger ist im Moment kein Gedankenspiel für mich."

Ein Positionswechsel im Nationalteam aber deutet sich an. Er käme für Kimmich quasi zur Unzeit und wäre seinem Führungsanspruch nicht förderlich. Flick tendiert dazu, den Dortmunder Emre Can zu seiner "holding six" zu ernennen und Triple-Gewinner Ilkay Gündogan zum Denker und Lenker des Mittelfeldspiels. Einige Jahre lang war das Mittelfeld nicht nur bei Bayern, sondern auch im DFB-Team das gemeinsame Revier von Kimmich und Goretzka.

Joshua Kimmich während eines Trainings der Nationalmannschaft
Joshua Kimmich, hier während einer Trainingseinheit der deutschen Nationalmannschaft am 11. Juni 2023 in Frankfurt am Main, ist vielseitig einsetzbar, im Mittelfeld genauso wie in der Verteidigung. © Getty Images/Andreas Schlichter

Hansi Flick bedient sich im Ideen-Pool von Pep Guardiola

Anscheinend soll Kimmich im DFB-Trikot eine Art Hybrid-Rolle ausfüllen, als rechter Verteidiger, der im Vorwärtsgang ins Zentrum rutscht, während hinten aus der Vierer- eine Dreierreihe wird. Eine taktische Erfindung von Pep Guardiola bei Manchester City ist das, die jedoch viel Training und Automatismen erfordert, was bei einer Nationalmannschaft eher schwierig ist.

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Flick hat zuletzt Emre Can in den Status des Immerspielenden erhoben. Weicht Kimmich auf die rechte Abwehrseite aus, wie er das in der Nationalmannschaft von 2016 bis 2018 tat? Dorthin, wo die DFB-Karriere des mittlerweile 79-maligen Nationalspielers einst als Nachfolger von Philipp Lahm begann. Dorthin, wo er schon bei der letzten EM 2021 aushelfen musste - allerdings ausgesprochen widerwillig. Ein auf rechts versetzter Kimmich bietet dem Bundestrainer jedoch die blendende Gelegenheit, endlich Gündogan dauerhaft in seine EM-Elf einzubinden. Neben Can.

Nationalspieler Emre Can während einer Trainingseinheit
Emre Can, hier am 6. September 2023 während des DFB, hat sich einen Stammplatz unter Bundestrainer Hansi Flick erobert. Seinetwegen droht Joshua Kimmich die Rückversetzung auf den Posten des rechten Verteidigers. © IMAGO/Jan Hübner/Franziska Gora

Benjamin Henrichs ist die Alternative auf rechts

Flick könnte auch Benjamin Henrichs als rechten Verteidiger aufstellen. Der 26-Jährige füllt die DFB-Problemposition in Leipzig seit einiger Zeit konstant gut aus. Von Kimmich würde Flick freilich nur etwas verlangen, was er gerade als obersten Grundsatz auf dem Weg zur Heim-EM postuliert hat: "Jeder Einzelne soll und muss sein Ego hinten anstellen und sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Der Star ist die Mannschaft, nicht der Einzelne." Diesen Satz kennen Fußballfans vom letzten deutschen Bundestrainer, der 1996 den bislang letzten deutschen Europameisterschaftstitel errang, von Berti Vogts.

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"Ich spiele dort, wo es die größten Einsatzchancen für mich gibt. Alles andere wäre ja dumm", hat Kimmich vor fünf Jahren gesagt. Doch seine Ansprüche sind heute ganz andere. Mit 28 will er das Feld dominieren, das Metronom des Aufbaus sein, die entscheidenden Pässe in die Räume schicken. Der Kimmich von 2023 ist ein gestandener Anführer - auch wenn er, wie in der WM-Dokumentation zu sehen ist, seinen Mitspielern manchmal fürchterlich auf die Nerven geht. Auch er weiß, dass Lahms Bereitschaft, als Kapitän 2014 ab dem Viertelfinale zähneknirschend den Rechtsverteidiger zu geben, zu einer Kamin-Legende des vierten WM-Titels geworden ist.

Vorbilder: John Stones und Trent Alexander-Arnold

Im heutigen Fußball muss die Versetzung von der Sechs keine Degradierung mehr sein. Taktik-Nerds haben in die Premier League auf Brighton and Hove Albion geschaut, wo die Außenverteidiger bei Ballbesitz in den Aufbau rotieren und eine Art Kreisverkehr entsteht. Manchester City spielt den einrückenden Rechtsverteidiger mit John Stones, der FC Liverpool mit Trent Alexander-Arnold. Kimmich könnte ein wichtiges Stoppschild sein und dennoch als Verbindungsmann seine geliebten Chip-Bälle absetzen.

Somit könnten am Ende alle gewinnen. Flick, der moderne Trainer, inspiriert von Guardiola und Jürgen Klopp. Kimmich in Doppelrolle. Die Nationalmannschaft, die neuen Raum findet. Gündogan würde mit Ball eine Position nach vorne rücken.

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Die Viererkette als System hat sowieso gewonnen. Vom Experiment Dreierkette hat sich Flick nach den schlimmen Leistungen im vergangenen Länderspielfenster schnell verabschiedet. (sid/dpa/hau)

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