Die Mini-Serie "All or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar" dokumentiert die Geschehnisse rund um die Nationalmannschaft beim WM-Debakel im vergangenen Jahr. Aufklären, warum das DFB-Team in der Krise steckt, kann die Prime-Video-Doku nicht. Aber sie liefert Anhaltspunkte.

Eine Kritik
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Die Spieler der deutschen Nationalmannschaft sitzen in ihrer Kabine, blicken ins Leere oder auf den Boden. Es wird aus den bereitgestellten Flaschen getrunken, aber niemand spricht ein Wort. Doch dann ist es plötzlich vorbei mit der gespenstischen Ruhe.

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"Fuck off", flucht Bundestrainer Hansi Flick während er hereingestürmt kommt, um sich seine Mannschaft vorzuknöpfen, die unmittelbar zuvor ihr erstes Spiel bei der Weltmeisterschaft in Katar gegen Japan trotz Führung verloren hat.

Später sitzen die Spieler in einem Konferenzraum und bekommen von Oliver Bierhoff die Leviten gelesen. "In mir brodelt es. Es brodelt richtig. Ich könnte kotzen", sagt der Geschäftsführer der Nationalmannschaft, den die verkorkste Winter-WM in Katar im vergangenen Jahr im Nachgang seinen Job kosten wird.

Die Nationalmannschaft in Katar: Die Geschichte einer Tragödie

Wegen Szenen wie diesen wird die ab dem 8. September auf Prime Video abrufbare Mini-Serie "All or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar" mit großer Spannung erwartet. Schon der vor kurzem veröffentlichte Trailer sorgte für Schlagzeilen und intensive Diskussionen in den sozialen Medien.

Denn die vierteilige Serie verspricht Einblicke in eine Mannschaft, die trotz zahlreicher talentierter Spieler am Boden liegt. "Diese Geschichte könnte von einem Wunder erzählen", sagt der langjährige Fußballkommentar Béla Réthy, der bei dem Amazon Original die Rolle des Erzählers übernimmt: "Die Geschichte eines gefallenen Champions, der wie Phönix aus der Asche steigt. Doch es ist die Geschichte einer Tragödie."

Vermutlich hatte sich der DFB erhofft, dass der viermalige Weltmeister unter Flick in Katar zu alter Stärke zurückfindet und deshalb dem Filmteam um Regisseur Christian Twente die Türen geöffnet. Stattdessen wurde nach dem Debakel bei der WM in Russland 2018 das zweite Vorrunden-Aus in Folge dokumentiert.

Trotz der Nähe zum Team kann die All-or-Nothing-Doku nicht abschließend klären, warum der DFB und sein Flaggschiff Nationalmannschaft derart in der Krise stecken. Zumindest nicht in den drei Folgen, die Prime Video vorab zur Ansicht bereitstellte. Anhaltspunkte, warum das Team schwächelt, liefert die Dokumentation dennoch.

Die Mannschaftssitzungen des DFB-Teams erinnern an Schulunterricht

Beispielsweise wenn eine Mannschaftsbesprechung gezeigt wird, in der Flick vor seiner Mannschaft steht und dabei wirkt wie ein genervter Lehrer vor einer unmotivierten Schulklasse. Der Bundestrainer will mit seinen Spielern darüber reden, was im Spiel gegen Japan schiefgelaufen ist, doch die Wortmeldungen kommen nur äußerst zögerlich.

Als sich schließlich einige Führungsspieler wie Thomas Müller oder Joshua Kimmich äußern, scheinen deren taktischen Anmerkungen bei Flick nicht besonders gut anzukommen. "Ich weiß nicht, vielleicht rede ich auch irgendwie anders oder habe eine andere Sprache", wundert sich Flick.

"Glaube. Überzeugung!", steht in großen Buchstaben auf dem riesigen Bildschirm in dem Konferenzraum. Zu spüren ist davon aber nichts. Bei einer anderen Sitzung kommt der Dortmunder Julian Brandt zu spät und wird von Flick mit deutlichen Worten ermahnt. Was wieder eher ungute Erinnerungen an die eigene Schulzeit weckt, als den Vorstellungen von topmotivierten Hochleistungssportlern bei einer WM gerecht zu werden.

Goretzka erzählt, dass 2018 unter Löw nicht nach Leistung aufgestellt worden sei

An anderer Stelle erklärt der die für anstehenden Länderspiele nicht mehr nominierte Leon Goretzka erstaunlich offen, dass er nicht den Eindruck gehabt habe, dass unter Flicks Vorgänger Joachim Löw bei der WM in Russland nach Leistung aufgestellt worden sei. Deshalb sei die Stimmung im DFB-Team sehr angespannt gewesen. "Dann sind wir völlig zu Recht in der Gruppenphase ausgeschieden", sagt der Bayern-Spieler. Angesichts solcher Aussagen dürfte sich umso mehr die Frage stellen, warum der DFB Löw trotzdem noch bis nach der EM 2021 in England im Amt beließ.

Auch in den Diskussionen um die One-Love-Binde, die Rolle der FIFA in dieser Sache und den umstrittenen Gastgeber Katar gab der Verband kein gutes Bild ab und schaffte es nicht, diese Themen von der Mannschaft fernzuhalten. In der Prime-Video-Doku wird deutlich spürbar, wie sehr die politischen Diskussionen in der Heimat die Spieler beschäftigen.

Erst streitet sich Kimmich mit Süle, dann mit Rüdiger

Besonders Flick ist der Druck des Turniers anzumerken. Dennoch ist es überraschend, in welcher Lautstärke und in welchem Tonfall der Bundestrainer die Mannschaft nach dem Japan-Spiel und in der Halbzeitpause der Partie gegen Costa Rica zusammenfaltet. Aber auch zwischen den Spielern kracht es, Joshua Kimmich gerät erst in der Kabine mit Niklas Süle aneinander, dann auf dem Trainingsplatz mit Antonio Rüdiger. "Laber mich nicht voll, ich sage es dir", schimpft Süle.

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Die Macher der Serie verzichten dabei darauf, zu kritisieren oder zu werten, die Kamera nimmt meistens die Rolle des stillen Beobachters ein und lässt die Protagonisten für sich sprechen. Ansonsten zeigt "All or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar" alles das, was man schon von anderen Prime-Video-Sportdokus kennt. Rasante Spiel- und Trainingsszenen, exklusive Interviews und perfekt inszenierte Bilder. Die Spieler lösen in ihrem abgelegenen Mannschaftshotel Kreuzworträtsel und machen Späße, sie spielen Padeltennis, Uno oder pokern.

Dabei kommen Mannschaft, Trainer und Betreuer durchweg sympathisch rüber. Über den Eindruck, dass sowohl im sportlichen wie im zwischenmenschlichen Bereich im DFB-Team derzeit einiges schiefzulaufen scheint, kann das aber nicht hinwegtäuschen.

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