Joshua Kimmich gilt in der DFB-Elf nicht mehr als gesetzt. Eine Überraschung für viele, galt er doch bei den Bayern als Vertrauter von Neu-Bundestrainer Nagelsmann. Nun könnte ausgerechnet der Ex-Bayern-Trainer für eine Demontage des selbsterklärten Leaders sorgen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Daniel Kugler sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Noch vor nicht allzu langer Zeit herrschte bei zahlreichen Experten die einhellige Meinung, dass Joshua Kimmich das neue Gesicht der Nationalmannschaft sei.

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Nach turbulenten Monaten, in denen der Bayern-Star immer wieder für seine Leistungen in der Kritik gestanden hat, erlebte der 28-Jährige im Testspiel gegen Österreich dann einen neuen Tiefpunkt im Nationaltrikot. Beim Auswärtsspiel in Wien saß der Mittelfeldspieler nur auf der Bank – aber nicht etwa wegen einer Verletzung oder als Vorsichtsmaßnahme, sondern lediglich wegen einer taktischen Entscheidung von Bundestrainer Julian Nagelsmann nach der Pleite gegen die Türkei.

Ein deutlicher Rückschlag für den Spieler und auch eine Ansage an die Öffentlichkeit, dass Kimmich längst nicht mehr gesetzt ist beim DFB – auch nicht unter seinem Münchner Ex-Trainer.

Kimmich selbst galt beim FC Bayern immer als einer der größten Fürsprecher Nagelsmanns und zeigte sich zunächst wenig begeistert, als die Bosse des Rekordmeisters im Frühjahr die Neuausrichtung unter Thomas Tuchel einläuteten. Vielleicht sah er das drohende Unheil schon kommen?

Denn Nachfolger Tuchel machte im Sommer schnell klar, dass er in Kimmich nicht den idealen defensivstarken Mittelfeldspieler sehe, den er für sein System eigentlich vorsieht. Entsprechend wurden Kimmichs Leistungen fortan mit Argusaugen beobachtet.

Bei der Nationalmannschaft - hätte man denken können - würde er dann wieder wie gewohnt das Vertrauen ausgesprochen bekommen. Die Realität war jedoch eine andere.

Kimmich auch in der Nationalmannschaft nicht mehr unangefochten

Dass ausgerechnet Nagelsmann, der Kimmich in seiner Zeit beim deutschen Rekordmeister als einen seiner Schlüsselspieler ausgemacht hatte und nie auch nur einen Zweifel an dessen Status in der Mannschaft aufkommen ließ, einige Monate später in neuer Funktion eben jenen aus der Startelf streicht, ist ein Paukenschlag, der bei Fans und Experten für Aufsehen sorgte.

Erste Anzeichen dafür, dass Kimmichs Stern im Nationaldress nicht mehr ganz oben am Firmament steht? Schwierig zu sagen, denn es könnte auch nur eine Momentaufnahme sein. Schließlich war es auch erst Nagelsmanns viertes Länderspiel, in dem der 36-Jährige entgegen seiner eigenen Ankündigung erneut mehrere Experimente bei seiner Aufstellung vornahm.

In diesem Zusammenhang nimmt die gefühlt endlose Diskussion um Kimmichs beste Position noch an Fahrt auf. Ist er überhaupt ein richtiger defensiver Mittelfeldspieler oder doch besser auf seiner früheren Position auf der defensiven Außenbahn aufgehoben?

"Ich sehe ihn als Sechser, nicht als Rechtsverteidiger", stellte Bundestrainer Julian Nagelsmann auf Nachfrage während der jüngsten Länderspielpause klar. Eine deutliche Aussage, mit der sich der Bundestrainer unnötig selbst unter Druck setzt und die er bei der nächsten Länderspielpause im März 2024 womöglich bereits wieder revidieren könnte.

Zentrales Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft verkommt zur Dauerbaustelle

Nagelsmann steht jedoch nicht nur durch seine klare Ansicht zur besten Position für Kimmich vor einer großen Aufgabe. Insgesamt ist das zentrale Mittelfeld der Nationalmannschaft eine anhaltende Dauerbaustelle, welches häufig Probleme macht und zuletzt wenig Stabilität und Sicherheit ausstrahlen konnte.

Eine Personalie ist jedoch bereits fixiert: Kapitän İlkay Gündoğan. Gesucht wird also der Nebenmann für den Star-Spieler des FC Barcelona auf der Doppelsechs. Doch auch im Duo mit Leon Goretzka wurden dem DFB im Testspiel gegen Österreich klar die Grenzen aufgezeigt. Wo also am besten ansetzen?

Was zumindest immer deutlicher wird: dass sich Gündoğan und Kimmich im Zentrum mehr schaden als gegenseitig ergänzen. Zu ähnlich sind die beiden in ihrer Spielweise. Dies erkannte auch Nagelsmann während der letzten Länderspiele des Jahres an und verdeutlichte, dass die beiden mehr Spielgestalter als defensivstarke Arbeiter seien. "Beide sind vom Profil her nicht die klassischen Spieler, die es lieben, auf zweite Bälle zu gehen".

Welches Duo aber am besten geeignet ist, scheint dem Bundestrainer selbst nicht klar zu sein. Der auf der USA-Reise überzeugende England-Legionär Pascal Groß kam gegen Österreich und die Türkei überhaupt nicht zum Einsatz. Ein seltsamer Schachzug, den Nagelmanns wie auch Kimmichs Degradierung auf die Bank damit erklärte, dass er die Rotation im zentralen Mittelfeld mit Blick auf das EM-Turnier testen müsse.

Die Suche nach der Stammformation geht also weiter. Durch die anhaltende Defensivschwäche wird die Forderung nach dem Leverkusener Robert Andrich in der ersten Elf immer lauter. Ein echter Brecher und zweikampfbetonter Spieler, der zuletzt zwar nominiert wurde, aber bisher nicht über Kurzeinsätze hinauskam.

Wie Nagelsmann entscheiden wird, steht noch in den Sternen. Kimmich sollte sich jedoch am besten bereits darauf einstellen, dass für ihn womöglich kein Startelfplatz bei der EM im Mittelfeld herausspringen wird und er zum wiederholten Male auf die Außenverteidigung ausweichen muss.

Philipp Lahm erkennt Vorteile in Kimmichs Vielseitigkeit

Ist Kimmichs Vielseitigkeit also mehr Fluch oder Segen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Einer seiner Vorgänger sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalmannschaft hat dazu aber eine ganz klare Meinung.

"Der Trainer muss entscheiden, wo und mit wem man am besten zusammenpasst. Das ist immer so", erklärte Ex-Nationalspieler Philipp Lahm vor wenigen Wochen gegenüber "Sport1".

Der langjährige DFB-Kapitän sieht deutliche Parallelen zwischen Kimmich und sich selbst: "Ich glaube auch, dass Josh sich immer in den Dienst der Mannschaft stellen wird. Das habe ich getan, egal, ob es dann bei der WM ins Mittelfeld ging oder vom Mittelfeld wieder auf Außenverteidiger, oder von links nach rechts. Ich habe ein paar Positionen spielen dürfen. Ich würde eher sagen, es ist ein Vorteil, wenn man mehrere Positionen spielen kann."

Für Kimmich steht der EM-Erfolg über allem

Würde Kimmich Nagelsmann also abweisen, wenn der Bundestrainer ihn darum bitte, für das Wohl der Mannschaft in die Defensive zu rücken? Wahrscheinlich nicht, wie Aussagen des Bayern-Stars zum Jahresanfang verdeutlichen. Als Kimmich den verletzten Torhüter Manuel Neuer als Kapitän der DFB-Elf im März vertrat, machte der 28-Jährige schnell deutlich, dass sein Fokus nicht etwa auf seinem eigenen Schicksal oder auf der Binde liege.

"Ich will nicht in 15 Jahren, wenn meine Karriere beendet ist, zurückblicken und sagen: Boah, eigentlich hatte ich eine geile Truppe, eine geile Mannschaft, aber wir haben nichts gerissen", stellte Kimmich klar. Ohnehin sei die Heim-Europameisterschaft im kommenden Jahr die größte Motivation - gerade auf Wiedergutmachung nach den enttäuschenden letzten Endrunden (WM 2018, EM 2021, WM 2022). "Ich hoffe, dass wir unsere Lehren aus den vergangenen Turnieren und Jahren gezogen haben."

Selbst zurückstecken für den Erfolg der Mannschaft. Eine Sichtweise, mit der Kimmich als gutes Beispiel vorangeht und seiner Vorbildfunktion gerecht wird.

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