Deutschland offenbart gegen die Schweiz einige Probleme. Der emotionale Schub und die Erkenntnis, dass die Mannschaft auch mit Spielern aus der zweiten Reihe Widerstände überwinden kann, stehen in den Analysen aber an erster Stelle.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Let the tournament begin", hat Toni Kroos mitten in der Nacht noch getwittert. Da war es fast schon 1 Uhr und Kroos im Bus der deutschen Nationalmannschaft auf dem Rückweg nach Herzogenaurach. Jetzt kann es so richtig losgehen, sollte das wohl bedeuten: Nach dem Vorgeplänkel in der Gruppenphase, wenn mit der K.o.-Phase die ganz großen Spiele anstehen.

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Einer wie Toni Kroos fühlt sich dann offenbar am wohlsten, gestählt in unzähligen Showdowns bei und mit Real Madrid. Und ausgestattet mit dieser Selbstverständlichkeit des Siegens. Auch deshalb gilt Kroos als großer Hoffnungsträger der Mission EM-Titel.

Wie schwer sich die deutsche Nationalmannschaft aber tut, wenn Kroos einmal nicht wie gewohnt abliefert, wenn die beiden Jungstars Jamal Musiala und Florian Wirtz nicht in ihre Räume und in ihre Dribblings finden und zwei, drei weitere Spieler unter ihren Möglichkeiten bleiben oder auf diesem Niveau an ihre Grenzen stoßen: Das wurde im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz offensichtlich.

"Der Ausgleichstreffer war ein sehr wichtiger Moment, für das Land und uns als Spieler."

Niclas Füllkrug über das Spiel gegen die Schweiz

Im Nachgang der Partie in der Frankfurter EM-Arena ordneten die Spieler und ihre Trainer Julian Nagelsmann die Leistung gegen starke Schweizer erstaunlich positiv ein. In der Analyse dominierten unbedingter Wille der Mannschaft, der späte Ausgleich durch Niclas Füllkrug und das dadurch erzeugte Momentum.

"Der Ausgleichstreffer war ein sehr wichtiger Moment, für das Land und uns als Spieler. Weil dies Erinnerungen schafft und positive Gefühle kreiert. Das kann schon so ein Knackpunktmoment gewesen sein", sagte Füllkrug über das 1:1 in quasi letzter Minute später in der Mixed Zone.

Parallelen zu David Odonkors und Oliver Neuvilles Co-Produktion im Spiel gegen die Polen bei der WM 2006 machten die Runde. Damals gab der späte Siegtreffer das Startsignal und trug die deutsche Mannschaft bis ins Halbfinale und letztlich auf Platz drei.

Ganz so emotional wie damals wurde Füllkrugs Ausgleich gegen die Schweiz zwar nicht gefeiert, er kann aber tatsächlich noch ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum großen Ziel werden. Das war die Botschaft des Abends.

"Dieses Tor war enorm wichtig. In einem K.o.-Spiel hätten wir uns damit in die Verlängerung gerettet", sagte Julian Nagelsmann gegenüber der Presse, wohl in der Hoffnung auf einen Lern- und Erlebniseffekt für die kommenden Aufgaben. "Wir haben gezeigt, dass wir mit einem Rückstand umgehen können", hoffte Kroos auf ein anderes wichtiges Signal für die kommenden Aufgaben.

Zu wenig Tiefe im deutschen Spiel

Die deutsche Mannschaft war dominant, führte am Ende alle relevanten Statistiken an und hatte doch über die gesamten 90 Minuten so ihre Probleme. Wirtz und Musiala boten sich wie gewohnt in den Zwischenräumen an in etwas abgewandelten Positionen, nur konnten die beiden ihre Kreativität kaum entfalten.

Auf jedes Zuspiel in diesen Raum schoss sofort ein Schweizer Halbverteidiger heraus und klemmte den Spielvortrag nach vorne ab. Und weil Wirtz und Musiala die Wege in die Tiefe nicht anboten oder fanden, fehlte dem Offensivspiel der Deutschen eine ganz zentrale Zutat.

"Wir hätten mehr hinter die Kette spielen müssen, dann wäre es sehr schwer geworden für die Schweiz", sagte Nagelsmann in der "ARD". "Wenn wir die Tiefe besser bespielen, gehen wir in Führung." Die erzielte allerdings die Schweiz, mit ihrem ersten Torschuss. Auch das weckte böse Erinnerungen an etliche Spiele der jüngeren Vergangenheit.

Die deutsche Restverteidigung war bei den zwar wenigen, dann aber hochkarätigen Torchancen des Gegners nicht immer auf der Höhe. Jonathan Tah sammelte mit einem übermotivierten Einsatz jenseits der Mittellinie auch noch seine zweite Gelbe Karte ein und wird im Achtelfinale am Samstag fehlen.

Maxi Mittelstädt streute auf dem schwierig zu bespielenden Rasen deutlich zu viele technische Fehler ein und fand bis zu seiner Auswechslung überhaupt keinen Rhythmus. Und im Angriff fehlte die Effizienz, was in der Gruppenphase noch ein letztes Mal zu verzeihen war - in der K.o.-Phase aber (wieder) ein essenzieller Bestandteil des deutschen Spiels werden muss.

Vom Publikum kam (zu) wenig

Es fokussierte sich in den Gesprächen über das Spiel deshalb sehr viel auf den speziellen Geist, den diese Mannschaft jetzt schon entwickelt habe. Die handwerklichen, inhaltlichen Fehler rückten in den Hintergrund, wichtiger war der emotionale Kick am Ende der Partie.

Der vom Frankfurter Publikum auch erstaunlich stoisch begleitet wurde. Kein Vergleich zu der guten Stimmung in München und Stuttgart zuletzt, im dritten Gruppenspiel musste der Funke von der Mannschaft auf die Fans überspringen und tat dies erst in der Nachspielzeit der Partie.

Auch das ein kleiner Baustein, der ab sofort wieder wichtig werden muss: Der Heimvorteil muss auch als ein solcher erkennbar sein in den nächsten Spielen. Immerhin: Im Dortmunder Westfalenstadion sollte das am Samstag eine Selbstverständlichkeit sein.

Flanke, Kopfball, Tor

Deutschland hat sich durch den Gruppensieg in den oberen Turnierbaum gespielt und sich das Achtelfinale in Dortmund damit auch verdient. Allerdings könnte sich Platz eins in der Gruppe A auch insofern noch als "Problem" erwiesen, da unter Umständen nahezu alle Top-Favoriten auch in diese obere Hälfte gespült werden könnten. Spiele gegen England, Spanien und Portugal könnten auf dem Weg in ein mögliches Finale anstehen.

Aber: Mit Jokern wie Füllkrug oder Flankengeber David Raum und dem immer noch nicht überzeugenden Leroy Sane, auf dessen Leistungsexplosion viele nun in der K.o.-Phase hoffen, hat die deutsche Mannschaft eine sehr gute zweite Reihe. Nicht zum ersten Mal kamen in einem entscheidenden Moment die nötigen Impulse von der Bank - und die Idee für den Schlüsselmoment aus einer scheinbar längst vergessenen Zeit.

Eine handelsübliche Flanke, ein Kopfball: Das war ein Rezept aus den 80er-und 90er-Jahren, mit dem Deutschland damals schon reüssierte. Und das nun womöglich seine Renaissance erlebt.

Verwendete Quellen

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