In der Nationalmannschaft war Ilkay Gündogan lange Zeit ein Rätsel. Während er in seinen Vereinen auftrumpfte, blieb er im DFB-Trikot blass. Bei der Heim-EM zeigt der Kapitän nun endlich, was er drauf hat.

Eine Analyse
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Schon in den Testspielen vor der EM stand die Startaufstellung von Bundestrainer Julian Nagelsmann mehr oder weniger fest. Diskutiert wurde dabei vor allem noch über zwei Positionen. Die eine Frage lautete, ob Manuel Neuer noch das Zeug zur Nummer eins habe. Und die andere, ob statt Ilkay Gündogan nicht lieber jemand anderes im Mittelfeldzentrum spielen sollte.

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Spätestens nach der Partie gegen Ungarn hat Gündogan die Kritik verstummen lassen. Schon im ersten Spiel gegen Schottland überzeugte der DFB-Kapitän durch wunderschöne Pässe, holte den vorentscheidenden Elfmeter zum 3:0 vor der Halbzeit raus. Gegen Ungarn, einem deutlich schwerer eingeschätzten Gegner, bestätigte Gündogan seine Leistung. Und krönte sie zudem mit seinem ersten Turniertor.

Gündogan ist bei dieser EM der Offensivspielmacher des DFB-Teams. Bei den vergangenen Turnieren stellte es sich als schwierig heraus, dass er als Spielertyp Toni Kroos sehr ähnlich war. Jetzt kann er seine Fähigkeiten vor Kroos entfalten. Er spielt die gefährlichen Pässe an seine Offensivspieler, agiert zweikampfstark und hat die Übersicht, die besser postierten Mitspieler oder die Abschlusssituation zu finden. So wie Kroos im Spielaufbau gesucht wird, suchen seine Teamkollegen Gündogan, wenn es ins letzte Angriffsdrittel geht. "Versetzt können wir uns besser ergänzen", erklärte Gündogan nach dem Spiel gegen Ungarn sein Zusammenspiel mit Kroos auch selbst.

Gündogan und die Nationalmannschaft, das war lange Zeit ein Rätsel. Schon seit Anfang der 2010er Jahre ist es auf Vereinsebene unbestritten, dass der gebürtige Gelsenkirchener zu einem der besten Mittelfeldspieler Deutschlands gehört. Gündogan war, wenn er fit war, Dreh- und Angelpunkt seiner Klubs in Nürnberg, Dortmund und später auch bei Manchester City.

Nicht selten schwärmte Pep Guardiola davon, wie wichtig die Qualitäten von Gündogan bei Manchester City sei - einem Team, das auch sonst nicht wenige Stars zu bieten hatte. Als der Verein 2023 nach jahrelangen Versuchen endlich die Champions League gewann, war Gündogan das Herz des Teams.

Gündogan blieb beim DFB immer blass

Anders sah es stets in der Nationalmannschaft aus. Gündogan kennt das DFB-Team quasi nur im Krisenmodus. Den Weltmeisterschaftssieg 2014 verpasste er ebenso wie den Titel beim Confederations Cup 2017, auch bei der Europameisterschaft 2016, bei der es immerhin ins Halbfinale ging, war Gündogan nicht dabei. Erst als sich die Nationalmannschaft bei der WM 2018 in Russland blamierte, feierte der Mittelfeldspieler sein Debüt bei einem großen Turnier. Auch wenn er beim Sieg gegen Schweden nur einmal eingewechselt wurde, die Leitwölfe waren damals noch andere.

Über die Jahre spielte sich Gündogan in die Mannschaft, doch blieb auch da meistens blass. Bei der Europameisterschaft 2021 konnte er ebenso wenig wichtige Akzente setzen wie knapp eineinhalb Jahre später bei der verpatzten WM in Katar. Löws Nachfolger Hansi Flick machte Gündogan in seinen letzten zwei Spielen als Bundestrainer zwar zum Kapitän, fand aber auch nie wirklich einen Weg, ihn in sein taktisches System zu integrieren.

Unter dem neuen Bundestrainer Nagelsmann bekam auch Gündogan eine neue Position, agierte nun als zentraler offensiver Mittelfeldspieler zwischen den beiden Jungstars Florian Wirtz und Jamal Musiala. Während die meisten Spieler im neuen System überzeugten, war Gündogan zunächst eine Ausnahme, die Sorgen bereitete.

Kroos brachte im Mittelfeld neue Struktur, Wirtz, Musiala und Maximilian Mittelstädt wichtige Offensivakzente, Gündogan blieb zwischen ihnen allen wieder mal blass. Gerade im Testspiel gegen die Ukraine kurz vor der EM enttäuschte ausgerechnet der Kapitän, verpasste eine klare Torchance und wurde nach 45 Minuten ausgewechselt. Die Kritik wurde lauter.

Viele forderten Sané statt Gündogan

Zwischen den Wirbelwinden Wirtz und Musiala wirkte der 33-jährige Kapitän damals eher behäbig, nicht wenige forderten, den Kapitän anstelle von Leroy Sané auf der Bank zu lassen. Die Vermutung, dass Gündogan nur wegen seiner Rolle als Kapitän den Platz in der ersten Elf behielt, lag nahe. Und dass er anders als seine Vorgänger Neuer und Bastian Schweinsteiger in dieser Funktion nicht als Lautsprecher auftrat, tat sein Übriges.

Nagelsmann setzte aber konsequent auf seinen Kapitän und lag damit am Ende richtig. Zum ersten Mal zeigt Gündogan auch in der Nationalmannschaft das, was man von ihm auf Vereinsebene seit Jahren sieht. Dem Bundestrainer, das kann man nach der erfolgreichen Achtelfinal-Qualifikation behaupten, ist es gelungen, die in sich zerfallende Nationalmannschaft innerhalb weniger Monate wieder zu einem Team zu formen. Dass er nach über zehn Jahren endlich Gündogans ideale Rolle im DFB-Team gefunden haben könnte, wäre ihm fast noch höher anzurechnen.

Verwendete Quelle:

  • SID
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