Thomas Tuchel erhöhte nach der Niederlage des FC Bayern gegen Leipzig den Druck auf die Mannschaft. Dabei würde mehr Selbstkritik dem ehrgeizigen Trainer gut zu Gesicht stehen.

Steffen Meyer
Eine Kolumne
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Auch fünf Tage nach dem enttäuschenden 0:3 gegen RB Leipzig im Supercup haben sich die Diskussionen rund um den FC Bayern noch nicht beruhigt. Insbesondere Trainer Thomas Tuchel steht aktuell von vielen Seiten in der Kritik. Grund ist nicht nur das Ergebnis und der ziemlich uninspirierte Auftritt seiner Mannschaft, sondern auch sein Auftreten in den Interviews danach.

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Resigniert, beinahe spöttisch, sprach er da über sein Team und die gezeigte Leistung. Und das nicht zum ersten Mal. Sogar beim Starneuzugang Harry Kane entschuldigte er sich ob der schwachen Performance von dessen Teamkollegen. Ein wenig wirkte es, als spräche hier ein Trainer nicht über den FC Bayern, sondern über eine ziemlich undisziplinierte Jugendmannschaft.

Tuchel sagte all das nicht in eine Kamera, sondern gleich in mehrere, und hatte sich auch bei der Pressekonferenz eine halbe Stunde nach dem Spiel noch nicht beruhigt. Offenbar war ihm dieser Punkt wichtig. Egal ob Kalkül oder ehrliche Emotion. Hängen blieb eines: Da schmeißt ein Trainer seine Mannschaft ziemlich unter den Bus.

Fairerweise muss man sagen, dass es in der Tat wenig gab, was der Trainer hätte loben können. Die Chancenverwertung schwach. Das zentrale Mittelfeld mal wieder zu häufig überlaufen und der organisierte Spielaufbau mit viel zu viel Stückwerk und Einzelaktionen. Doch Tuchel hat mit seinen Aussagen eine Debatte ausgelöst, die größer ist, als es nach einer sportlich immer noch recht unbedeutenden Supercup-Niederlage eigentlich sein müsste. Und das in einer Phase, in der selbst Führungsspieler wie Joshua Kimmich offen darüber sprechen, dass das Selbstvertrauen nach vielen Niederlagen in der Vorsaison noch ziemlich angeknackst ist.

Führungsspieler werden öffentlich infrage gestellt

Damit kommt nun eine eigentlich bereits überwunden geglaubte Debatte hoch. Tuchel ‒ so hieß es zum Start in München ‒ habe sich als Trainer und Führungsfigur weiterentwickelt. Er habe in Paris und London gelernt mit Stars umzugehen, gelassener zu sein. Zuvor war ihm vor allem in Dortmund manchmal nachgesagt worden, mit Ehrgeiz und Perfektionismus am Ende zu viele Spieler und Mitarbeiter verloren zu haben.

Dem FC Bayern war beim überraschenden Wechsel von Nagelsmann auf Tuchel im März extrem wichtig zu betonen, dass nun wieder mehr Ruhe und Professionalität einkehren sollte. Zu viele Nebenkriegsschauplätze, so hieß es, sorgten damals für zu viel Ablenkung. In München hat eben jeder Nebensatz das Potenzial, zur Meldung zu werden. Nagelsmann produzierte einige davon.

Einmal musste sich der Bayern-Coach sogar mit einem Besuch bei der Feuerwache 4 in München Schwabing entschuldigen. Zuvor hatte er in einer Pressekonferenz flapsig gesagt, dass er sich um die Motivation der Mannschaft keine Sorgen mache. Schließlich sei man hier beim FC Bayern und nicht bei der Freiwilligen Feuerwehr Süd-Giesing. Gegen die Aufregung dieser Woche wirkt das geradezu lachhaft.

Zumal es nicht die einzige Baustelle ist. Es wird munter über Führungsspieler wie Joshua Kimmich oder Leon Goretzka diskutiert. Weil zu oft unwidersprochen bleibt, dass Tuchel laut Medienberichten unzufrieden mit ihrer Interpretation der zentralen Mittelfeldrolle ist. Zudem sprach er ganz offen darüber, dass er sich eine echte “Holding 6”, einen defensiv denkenden Sechser, wünscht.

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Auch hier bleibt jenseits der sportlichen Bewertung fraglich, wie diese öffentliche Diskussion der Mannschaft in der aktuellen Phase hilft. Zumal mit Kimmich, Goretzka, Neuer und Müller nun vier von fünf Mitgliedern des letztjährigen Münchner Mannschaftsrats öffentlich infrage gestellt werden oder verletzungsbedingt fehlen.

Es gab Trainer beim FC Bayern, die achteten penibel darauf, sich bei Niederlagen eher demonstrativ vor die Mannschaft zu stellen. Jupp Heynckes kommt einem hier in der zweiten Phase in München in den Sinn. Gleiches gilt für Ottmar Hitzfeld. Uli Hoeneß war ebenfalls lange Zeit dafür bekannt, die Mannschaft nach Siegen eher auf dem Boden zu halten, aber bei Niederlagen auch mal Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, die der Mannschaft Zeit zum Durchatmen gaben. Auch Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg stellte sich zuletzt nach dem blamablen Aus der DFB-Frauen bei der Weltmeisterschaft sehr selbstkritisch vor die Mannschaft.

Tuchels Bilanz bisher nicht gut genug

Natürlich gibt es Momente im Verlauf einer Saison, in der eine klare öffentliche Kritik oder ein Appell an die Ehre der Mannschaft etwas auslösen kann. Doch auf Dauer nutzt sich das ab. Aktuell hat die Saison noch nicht mal begonnen. Was soll die Steigerung sein, wenn es mal in einer wirklich wichtigen Phase schlecht läuft?

Alles in allem täte Tuchel in dieser Phase etwas mehr Selbstkritik gut. Denn dafür gäbe es durchaus handfeste Gründe. Die sportliche Bilanz seiner bisherigen Amtszeit ist besorgniserregend. Fünf Niederlagen in 13 Pflichtspielen sind enorm viel und werden der Qualität der Mannschaft nicht gerecht. Er hat es bisher nicht geschafft, die Mannschaft taktisch erfolgreich weiterzuentwickeln, er hat das Spiel im Vergleich zur Ära Nagelsmann und Flick deutlich entkompliziert. Weniger Risiko der Außenverteidiger, weniger Aggressivität im Gegenpressing und mehr Positionstreue.

Umstellung hilft der Defensive wenig

Der Problemzone Defensive hat jedoch das nur bedingt geholfen. Die Anzahl der Durchbrüche und Gegentore bleibt zu hoch. Gegen Leipzig wirkte die Mannschaft zudem nicht gut vorbereitet auf die vielen diagonalen Sprints von Neuzugang Xavi Simmons oder das kleinräumige Zusammenspiel von Timo Werner und Dani Olmo im linken Halbraum. Der Wunsch nach einem neuen Sechser ist da durchaus nachvollziehbar, allerdings kann der Erfolg eines so starken Kaders nicht von einem fehlenden Spielertypen abhängen.

Auch offensiv ist der Übergang ins Angriffsdrittel nach wie vor nicht konstant gut und häufig zu abhängig von Geniestreichen Jamal Musialas. Schon in den durchaus guten Vorbereitungsspielen gegen Manchester City und Liverpool gab es da Licht und Schatten. Hier sollte die Ankunft von Harry Kane als Zielspieler im Zentrum jedoch besonders helfen.

Für Tuchel beginnt mit dem Bundesligaauftakt am Freitag eine enorm wichtige Phase. Er hat erstmals eine komplette Saisonvorbereitung mit diesem Kader hinter sich. Kein Nationalspieler fehlte wegen eines Turniers. Mit Harry Kane bekam Tuchel seinen Wunschspieler. Der Kader ist mit Ausnahme der noch ungeklärten Torwartposition außergewöhnlich stark. Eine bessere Ausgangslage hatte in diesem Jahrtausend kaum ein Bayern-Trainer. Es ist jetzt vor allem Tuchels Verantwortung, daraus etwas Besonderes zu machen.

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