Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen und ihre Folgen haben die deutsche Politik erschüttert. Die Demokratie sei zwar nicht in Gefahr, sagt der Politikwissenschaftler Hendrik Träger - doch die Parteien stünden vor einer Herkulesaufgabe.
Eine Wahl im Erfurter Landtag hat gereicht, um die ganze Republik in Aufruhr zu versetzen: In der vergangenen Woche wurde der FDP-Politiker
Einen Tag später kündigte er zwar seinen Rückzug an – doch die Folgen erreichten auch das politische Berlin:
Hendrik Träger, Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig, spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Fehler der Parteien, verlorenes Vertrauen und die Folgen für die Demokratie.
Herr Träger, nach den Ereignissen im Thüringer Landtag war in der Öffentlichkeit die Sorge zu hören, die Demokratie sei gefährdet. Würden Sie dem zustimmen?
Hendrik Träger: Mit solchen Begriffen wäre ich vorsichtig. Zu einer Demokratie gehören nicht nur Parteien und Ministerpräsidenten, sondern auch andere Institutionen wie die Gerichte, die Bundesebene und die 15 anderen Bundesländer.
Von einer Demokratiekrise zu sprechen, ginge meiner Meinung nach zu weit. Thomas Kemmerich musste allerdings wissen, dass er nur mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Dass er die Wahl trotzdem angenommen hat, ist durchaus bedenklich.
Warum? Rechtlich gesehen war seine Wahl doch ein demokratischer Akt.
Das schon. Aber Union und FDP haben immer deutlich gemacht, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben wird. Kemmerich hätte sofort nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses klar sein müssen, dass er nur mithilfe der AfD ins Amt gekommen sein kann. Man muss der AfD, vor allem der Höcke-AfD in Thüringen, durchaus strategisches Kalkül zutrauen. Insofern sind CDU und FDP der AfD in die Falle gegangen.
Ist die AfD eine Gefahr für die Demokratie, wenn sie solche Spielchen treibt? Der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland hat sogar angeregt, die AfD-Abgeordneten sollten das nächste Mal für den Linken
Dieser Vorschlag zeigt, welche strategischen Raffinessen die AfD vorhaben könnte. Mit einem solchen Verhalten könnte die Partei theoretisch jedem x-beliebigen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten oder des Bundeskanzlers schaden beziehungsweise in Misskredit bringen.
In der politischen Praxis wäre aber letztlich entscheidend, ob jemand nur aufgrund der Stimmen der AfD das erforderliche Quorum erreicht oder auch ohne die AfD eine Mehrheit hätte. Im ersten Fall müsste die Wahl abgelehnt werden. Im zweiten Fall hätte der Kandidat beziehungsweise die Kandidatin eine eigene Mehrheit jenseits der AfD, wäre also nicht von den Stimmen abhängig und könnte das Amt antreten.
Wenn es derzeit aus ihrer Sicht keine Demokratiekrise gibt - dann vielleicht aber eine Parteienkrise?
Definitiv. Die Thüringerinnen und Thüringer haben vor mehr als drei Monaten gewählt. Die Zusammensetzung des Landtags ist zugegebenermaßen sehr schwierig, aber damit müssen Parteien umgehen. Es gab immer wieder Gespräche und Ideen - zum Beispiel, dass die CDU und die Linke nicht in einer klassischen Koalition, aber in einer Projektregierung zusammenarbeiten. Dazu ist es aber nicht gekommen.
Alle sechs Parteien im Landtag haben daraufhin versucht, möglichst gut durch diese Ministerpräsidentenwahl zu kommen und das durchzuziehen, was sie schon immer vorhatten. Dabei ist etwas herausgekommen, was deutschlandweit für Aufsehen gesorgt und in Berlin zum Rücktritt der CDU-Vorsitzenden geführt hat.
Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass weder die Landes- noch die Bundesvorsitzenden Herr des Verfahrens sind. Außerdem ist unsicher, wie es in Thüringen weitergeht: Gibt es Neuwahlen oder nicht?
Wir haben innerhalb einer Woche Ereignisse erlebt, die vor einer Woche noch unvorstellbar gewesen wären. Und Lösungen zeichnen sich bisher nicht ab. Dadurch wird das Ansehen der Parteien belastet. In letzter Konsequenz könnte eine tiefgreifende Parteienkrise entstehen.
Haben die Bundesparteien zu wenig Verständnis für ostdeutsche Besonderheiten?
So kurios es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung klingen mag: CDU und FDP haben offenbar noch nicht realisiert, dass wir im Osten und Westen unterschiedliche Parteiensysteme haben.
Eine Partei kann auf der Bundesebene sagen, dass sie weder mit der Linken noch mit der AfD zusammenarbeiten will. Im Osten lässt sich das aber kaum aufrechterhalten. Insbesondere dann nicht, wenn die Parteien an den Rändern wie jetzt in Thüringen zusammen mehr als 50 Prozent haben.
Aus meiner Sicht wäre es sinnvoller, da differenziert heranzugehen. In Stein gemeißelte Unvereinbarkeitsbeschlüsse legen den Landespolitikern gewissermaßen Fußfesseln an und vermitteln den Eindruck, dass in den Bundesgeschäftsstellen das Gespür für die Situation vor Ort fehlt.
Wie sinnvoll ist es, wenn eine Partei der politischen Mitte wie die CDU sich so streng von den Rändern abgrenzt – und Linke und Rechte dabei auch noch gleichsetzt?
Es kommt darauf an, um welche Personen es geht. Den Linken-Politiker Bodo Ramelow als gebürtigen Westdeutschen kann man kaum für die Taten der SED verantwortlich machen. Zur Linken gehören aber auch andere Gruppierungen wie die Kommunistische Plattform, die praktisch eine Revolution oder einen Systemwechsel planen. Das sind Leute, von denen sich die anderen Parteien durchaus abgrenzen können.
Sowohl die Linke als auch die AfD sind keine homogenen Parteien. Zur AfD gehören Leute, die ganz weit rechts stehen und über die man sagen kann: Mit denen arbeitet man als Demokrat nicht zusammen. Auf kommunaler Ebene muss es aber nicht so sein, dass jeder Antrag nur deshalb abgelehnt wird, weil er von der AfD kommt.
Welche Folgen haben die Ereignisse für das Vertrauen in die Parteien?
Es führt nicht dazu, dass das Vertrauen wächst. Viele Leute verstehen gar nicht mehr, was da eigentlich passiert und beginnen zu hadern. Wir wissen aus Umfragen: Die Demokratie als Idee hat sehr hohe Zustimmungswerte. Für die Demokratie in der politischen Praxis sind die Werte etwas niedriger.
Fragt man gezielt nach bestimmten Institutionen oder Akteuren, erhalten die Parteien teilweise die niedrigsten Zustimmungswerte. Die Turbulenzen in Erfurt und Berlin führen dazu, dass das Vertrauen zumindest vorübergehend noch weiter sinkt.
Gäbe es Wege, dieses Vertrauen zurückzugewinnen?
Die Union muss zunächst ihre offene Führungsfrage klären. Auch die FDP muss entscheiden, ob Christian Lindner noch der richtige Vorsitzende ist. Jenseits dieser Personalfragen muss deutlich werden, wofür die Parteien inhaltlich stehen.
Es wäre zu kurz gegriffen, wenn die CDU denkt, mit einem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz werde alles besser. Ein zu Merz passendes inhaltliches Programm müsste zum Beispiel auch konservativ beziehungsweise wirtschaftsliberal sein, statt in Konkurrenz zur SPD oder Grünen zu treten. Die etablierten Parteien stehen vor einer Herkulesaufgabe.
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